05. Februar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Vermisste Flüchtlinge Wo sind all die Kinder hin?“ · Kategorien: Deutschland, Europa · Tags:

Quelle: FAZ

Mehr als 10.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden in Europa vermisst. Viele Kommunen sind mit der Betreuung überfordert.

Mehr als 10.000 minderjährige Flüchtlinge, die alleine nach Europa einreisten, seien nach ihrer Ankunft in Europa verschwunden, hieß es kürzlich von Europol. 5000 Personen in Italien, rund 1000 in Schweden. Auch in Deutschland wurden Anfang Januar 4749 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, so der Fachbegriff, nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) als vermisst gemeldet, davon 431 Kinder im Alter von bis zu zwölf Jahren. Im Oktober betrug die Zahl in Deutschland insgesamt knapp 3200. Europol warnte, dass viele der Flüchtlinge „zumindest potentiell gefährdet“ sind. Nicht alle seien tatsächlich in Gefahr, sondern viele etwa bei Angehörigen untergekommen. „Aber wir wissen weder, wo sie sind und was sie machen, noch mit wem.“

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind die verletzlichste Gruppe der Migranten, die zur Zeit nach Europa kommen. Regelmäßig gibt es Berichte über Missbrauch auf der Fluchtroute. Nach Angaben Europols waren rund 27 Prozent der Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr nach Europa kamen, minderjährig. Der Anteil steigt, heißt es nun vom Flüchtlingshilfswerk Unicef: Kamen im vergangenen Jahr großteils Männer nach Europa, so sind mittlerweile ein Drittel der Flüchtlinge, die per Boot von der Türkei nach Griechenland übersetzen, Kinder. An der griechisch-mazedonischen Grenze liege der Anteil von Frauen und Kindern bei 60 Prozent; Männer seien erstmals in der Minderheit.

Ein beinahe unmögliches Unterfangen

Wie viele der Kinder und Jugendlichen alleine einreisen wird nicht erhoben. Erst bei der Registrierung an der deutschen Grenze wird danach gefragt. Mehr als 60.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge lebten Ende Januar nach Angaben von Unicef in Deutschland – mehr als in jedem anderen europäischen Land. Zwischen 35.000 und 40.000 davon kamen allein im Jahr 2015. Die Zahl ist also ähnlich stark gestiegen wie die Zahl der Flüchtlinge insgesamt. Allerdings ist der Aufwand für Städte und Kommunen ungleich höher, denn unbegleitete Minderjährige kommen nicht in Gemeinschaftsunterkünften unter, sondern müssen nach Maßgabe des Kinder- und Jugendrechts betreut und in Obhut genommen werden. Davor wird geprüft, ob sie tatsächlich jünger als 18 Jahre alt sind. In vielen Fällen ein beinahe unmögliches Unterfangen.

Gilt der Jugendschutz, müsste ein Betreuer theoretisch für zwei Personen Tag und Nacht zur Verfügung stehen. Das ist angesichts der großen Zahl unmöglich. Auch herrscht in vielen Gegenden weiterhin ein Ausnahmezustand. In Rosenheim etwa leben rund 100 unbegleitete Minderjährige in einer Turnhalle. Es sei zu befürchten, dass eine Unterbringung, die den gesetzlichen Vorgaben widerspreche, zum Dauerzustand werde, sagt Niels Espenhorst vom Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Bumf). Dabei hat sich vor allem für grenznahe Regionen die Situation eigentlich verbessert. Bis November des vergangenen Jahres war diejenige Gemeinde, in der die jungen Leute aufgegriffen wurden, dauerhaft für sie zuständig. Mittlerweile werden auch junge Flüchtlinge bundesweit nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt. Andernfalls wäre Rosenheim „untergegangen“, sagt der Leiter des Kreisjugendamtes Rosenheim, Johannes Fischer. Die Verteilung läuft nun aus dem Süden Deutschlands nach Norden.

Vermisste, unbekannte Tote

Theoretisch. Denn faktisch verschwinden viele Jugendliche irgendwann. Viele ziehen in die Städte, manche in ein anderes Bundesland oder in einen anderen Staat. Jedes Mal muss das Jugendamt eine Vermisstenanzeige aufgegeben und eine Personensuche veranlassen. Dann passiert zumeist nichts. Viele kämen vermutlich bei Verwandten unter oder melden sich bei anderen Jugendeinrichtungen, heißt es vom BKA. Aber so genau weiß das keiner. Das BKA führt die jugendlichen Flüchtlinge in der allgemeinen Liste „Vermisste; unbekannte Tote“. Melden sich minderjährige Flüchtlinge bei einem anderen Jugendamt, werden ihre Daten theoretisch aus der Vermisstenliste genommen.

Aber der Datenabgleich gestaltet sich nach Angaben des BKA schwierig; oft fehlen Ausweisdokumente, Angaben zu Namen und Geburtsdaten variieren, Mehrfacherfassungen sind möglich. Manche Jugendliche werden drei bis vier Mal in Obhut genommen, sagt Espenhorst. Bis zu 20 Prozent der Jugendlichen seien „abgängig“, verschwänden also irgendwann. Die Anzahl sei zuletzt gestiegen. Vor allem in Schleswig-Holstein sei die Inobhutnahme und der Schwund besonders groß; in den dortigen Einrichtungen blieben die unbegleiteten Minderjährigen zumeist nur wenige Tage. Dann zögen sie weiter, in Richtung Dänemark oder Schweden. Viele würden von der Polizei aufgehalten und anschließend zurückgebracht. Aber viele kommen irgendwann an. Die meisten in Schweden.

Rekorde in Asylpolitik

Das Königreich hat wie Deutschland ein Jahr der Rekorde in der Asylpolitik hinter sich. 163.000 Menschen beantragten 2015 Asyl in Schweden, darunter 35-000 unbegleitete Minderjährige. Nach Angaben der Migrationsbehörde kamen allein 23000 aus Afghanistan. Der Anteil von unbegleiteten Minderjährigen ist also weit höher als in Deutschland. Deswegen standen sie auch seit Beginn der Flüchtlingskrise im Fokus der Schweden. Auch hier müssen sich die Kommunen um die Betreuung und die Unterkunft für die Minderjährigen kümmern. Die Minderjährigen erhalten nicht nur Rechtsbeistand, sondern auch Paten, die sie betreuen. Im Fokus standen sich auch, weil die Minderjährigen offensichtlich nicht immer Minderjährige sind. So beschloss die Regierung, als sie Ende des Jahres eine Kehrtwende hin zu einer restriktiven Asylpolitik vollzog, dass künftig medizinisch das Alter untersucht werden soll.

In den letzten Wochen aber sind unbegleitete Minderjährige in Schweden noch aus einem ganz anderen Grund in den Fokus geraten: Kriminalität. So gab es Berichte über sexuelle Übergriffe gegen Mädchen und Frauen auf einem Festival in Stockholm – zu den Verdächtigen gehören angeblich Jugendliche aus Afghanistan. Vor kurzem dann wurde in einem Heim für unbegleitete Jugendliche eine Betreuerin erstochen. Der mutmaßliche Täter war ein Bewohner des Heims. Sorgen bereiten den schwedischen Behörden zudem Straßenkinder aus Nordafrika, die ohne Asylstatus auf den Straßen leben – vor allem in Göteborg und Stockholm. Es sollen etwa 800 sein, die meisten offenbar aus Marokko. Die Regierung in Stockholm will sie nun wieder in ihre Heimatländer zurückschicke. Als Ausgleich soll Marokko Gelder für Heime erhalten, wie der schwedische Innenminister Anders Ygeman diese Woche äußerte. Damit sie nicht auch in ihrer Heimat wieder auf der Straße leben müssen.

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