03. Februar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge : Die überforderte Hauptstadt“ · Kategorien: Deutschland

Quelle: Zeit Online

Flüchtlinge hungern, die Kriminalität wird angeblich nur noch verwaltet und in Bürgerämtern wird mit Terminen gehandelt. Was ist los in Berlin?

Von Susanne Kaiser

Berlin ist hip. Trotz der chronischen Unterfinanzierung, der hohen Arbeitslosigkeit und dem aus süddeutscher Perspektive unzureichenden Arbeitsethos. Vielleicht sogar genau deswegen: Prekarität war das Aushängeschild der Hauptstadt. Seit einigen Jahren kippt die Stimmung. Über das Milliardengrab Flughafen wird offen gespottet und spätestens mit dem Lageso-Desaster ist Ineffizienz nicht mehr sexy.

Die Entwicklung dort ist dramatisch: Menschen müssen hungern, weil das Landesamt das Essensgeld nicht auszahlt. Dabei ist genug Geld da – nur niemand, der es weitergeben könnte. Das ist das Tragische an der Lageso-Katastrophe. Aber liegt das wirklich daran, dass Berlin plötzlich von der Flüchtlingskrise überrascht wurde, wie so oft erklärt wird? Mitnichten, schon seit Jahren arbeiten Berliner Institutionen in Notstandsbesetzung. Ob bei der Polizei, in Bürgerämtern, in Schulen, Krankenhäusern oder beim Finanzamt – überall fehlt es an Personal. Das beeinträchtigt nicht nur erheblich die Leistungsfähigkeit von Behörden, sondern belastet auch die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes.

Mit kosmetischen Korrekturen ist die Verwaltung nicht zu retten

„Kriminalität wird vielfach nur noch verwaltet“, heißt es von der Polizeigewerkschaft (GdP). Der Personalmangel drückt die Erfolgsquote laut GdP auch bei Ermittlungen gegen die organisierte Kriminalität. Und auf den Straßen sieht man schon lange nur noch wenige Streifen. Polizisten, die einfach nur präsent und nicht schon im Einsatz sind.

Bei Bürgerämtern müssen Bürger so lange auf einen Termin warten, dass dort sogar rund ein Jahr lang mit den begehrten Terminen gehandelt wurde. Bis vor Kurzem konnte man über eine Internetplattform einen Behördengang innerhalb von fünf Tagen für 25 Euro buchen, für 45 Euro sogar innerhalb von 48 Stunden, statt monatelang zu warten. Die Bürgerämter erkannten die Not der Bürger und reagierten. Sie entzogen der Geschäftsidee die Grundlage: Kurzfristig freiwerdende Termine werden nur noch angeboten, wenn sie mehr als fünf Tage in der Zukunft liegen.

Der Geschäftemacherei ist damit vorerst ein Ende gesetzt, der Not aber noch lange nicht. Der Lösungsansatz ist bezeichnend für die Verwaltung der Stadt: Es werden nur ein paar Symptome beseitigen, statt wirklich die Ursachen anzugehen.

Wie wenig weitsichtig diese Politik ist, zeigt auch der Blick aufs Finanzamt. Verglichen mit Lageso oder Bürgerämtern herrscht hier Ordnung. Und dennoch stehen die Mitarbeiter unter einem erheblichen Druck. Das hat Konsequenzen, für kleine Steuerzahler, für große Unternehmen und nicht zuletzt für den Berliner Haushalt.

Fünf Minuten für eine Steuererklärung

„Wir haben in allen Finanzämtern in Berlin eine ausgesprochen hohe Arbeitsbelastung durch eine sehr dünne Personaldecke“, sagt Eric Lausch, Steuerexperte bei der Gewerkschaft ver.di. In Berlin seien zehn Prozent der Stellen gestrichen worden. Dabei seien die zur Bewältigung aller Aufgaben dringend erforderlich. Effektiv gebe es 6.100 Stellen, benötigt würden aber gut 6.700. Für die Gewerkschaft ist das eine Altlast aus der Sparpolitik der Ära Thilo Sarrazin, die einfach weiter mitgeschleppt wurde bis zum heutigen Amtsinhaber Matthias Kollatz-Ahnen.

„Berlin boomt in vielen Bereichen der Wirtschaft, einwohnermäßig, lohnsteuermäßig, umsatzsteuermäßig, grunderwerbsteuermäßig“, sagt Lausch. „Die Kassen in Berlin sind im Moment sehr gut gefüllt.“ Das Land Berlin schreibt entgegen dem Bundestrend seit einigen Jahren schwarze Zahlen und baut so seinen Schuldenberg ab. Finanzsenator Kollatz-Ahnen rühmt denn auch „die beeindruckenden Zahlen“ für 2015: Selbst die Kosten der Flüchtlingskrise seien „gemeistert“ und erneut ein Überschuss erzielt worden.

Für ver.di ist es deshalb unsinnig, nicht mehr Personal einzustellen. Gerade in den Steuerbehörden würde dies nicht einfach nur Geld kosten, sondern vor allem auch für mehr Einnahmen sorgen. Lausch führt die Absurdität des politischen Starrsinns an einem einfachen Rechenbeispiel aus: 120 Betriebsprüfer fehlen in Berlin, ein Betriebsprüfer bringt 750.000 Euro mehr Steuern pro Jahr, macht einen Verlust von 90 Millionen Euro. Und das betrifft laut Gewerkschaft nur den Außendienst. Allein 2015 entgingen dem Fiskus weitere 300 Millionen Euro, weil – neben anderen Gründen – Forderungen durch die Finanzämter zu spät geltend gemacht wurden.

Im Innendienst sitzt der Statistikdruck den Finanzbeamten im Nacken. In einer sehr kurzen Zeit muss eine große Zahl von Fällen abgearbeitet werden. Für einen kleinen Einkommenssteuerfall bleiben da nur fünf Minuten und für ein millionenschweres Unternehmen 15 Minuten, wie Lausch erläutert. Das sei völlig unverhältnismäßig, denn große Firmen sind um ein Vielfaches komplexer und daher wesentlich zeitaufwendiger.

Die Steuergerechtigkeit bleibt auf der Strecke

„Es ist einfach frustrierend, wenn man seinen Job nicht gründlich machen kann“, sagt eine Beamtin, die ihren Namen wie so viele andere Mitarbeiter von Berliner Behörden nicht geschrieben sehen will. Zu groß ist die Angst vor Konsequenzen. Dabei sei die Arbeitsmotivation eigentlich relativ hoch, sagt sie.

Es sei aber einfach nicht mehr möglich, gerecht zu besteuern, weil die Zeit für eine gründliche Prüfung fehle. „Abschreiben“ nennt man im Finanzbeamtenjargon die simple Übernahme der Angaben in der Steuererklärung auch. „Das belastet alle“, sagt die Steuerfachfrau. Zusammen mit dem hohen Arbeitspensum und dem Druck, immer auf dem neuesten Stand im hochkomplexen Steuerrecht zu bleiben, sorgt der Pfusch beim Prüfen für Überlastung und Verdruss unter den Mitarbeitern.

Konfrontiert man die Senatsverwaltung für Finanzen mit der Kritik der Gewerkschaft und der Beschäftigten, bekommt man nur pauschale Antworten. Auf konkrete Punkte geht die Behörde nicht ein. „Es hat in der Berliner Steuerverwaltung mindestens seit dem Jahr 2010 keine Personaleinsparungen gegeben“, sagt eine Sprecherin. „Eine öffentliche Verwaltung, und damit auch die Steuerverwaltung, sollte im Interesse der Steuerzahler gut und zuverlässig und zugleich effizient arbeiten. Hier das richtige Maß zu finden, ist sicher nicht immer ganz einfach, in Berlin aber gewährleistet.“ Die Steuergerechtigkeit sei beispielsweise in Berlin nicht gefährdet.

Angesichts der Frustrationen in Berliner Ämtern auf beiden Seiten des Schreibtisches und erst recht mit Blick auf die katastrophalen Zustände beim Lageso fragt man sich, warum nicht einfach mehr Beschäftigte eingestellt werden. „Berlin ist eben keine Stadt, sondern ein trauriger Notbehelf, Berlin ist ein Conglomerat von Kalamitäten“, schreibt der Dramatiker Frank Wedekind an seinen Kollegen Arthur Holitscher. Das war 1908. Heute sitzt die Stadt auf ihrem Geld, geändert hat sich – nichts.

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