02. Februar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingsdeal mit der Türkei: Europas Türsteher“ · Kategorien: Europa, Türkei · Tags: ,

Quelle: Spiegel Online

Die Türkei soll Flüchtlinge an der Weiterreise nach Europa hindern. Präsident Erdogan lässt deshalb die Grenze zum Bürgerkriegsland Syrien abriegeln. Was bedeutet die Abschottung für die Hilfesuchenden?

Aus der Türkei berichten Maximilian Popp und Charlotte Schmitz (Fotos)

Am 2. Januar rammt ein Flüchtlingsboot kurz vor der griechischen Insel Agathonisi einen Felsen und sinkt. Die griechische Küstenwache rettet 39 Passagiere. Khalid, ein zwei Jahre alter Junge aus Syrien, ertrinkt. Er ist der erste Tote in der Ägäis im neuen Jahr. 308 weitere werden bis Ende des Monats folgen. Noch nie sind in einem Januar im Mittelmeer mehr Menschen gestorben als 2016.

Onur Bektas fährt mit seinem Auto durch Cesme, einen Badeort im Süden der Türkei. Er schüttelt den Kopf. „Die Toten in der Ägäis sind auch eure Toten“, sagt er. Bektas arbeitet für eine lokale Flüchtlingsorganisation. Er glaubt, das Sterben im Mittelmeer sei die Konsequenz der europäischen Asylpolitik.

Ende November schlossen die EU und die Türkei einen Deal: Ankara soll Flüchtlinge gegen Hilfsgeld in Höhe von drei Milliarden Euro an der Weiterreise nach Europa hindern. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogans Partei AKP hat Migrationskontrollen ausgeweitet. Sie hat Sicherheitskräfte an die Ägäis-Küste entsandt, Razzien gegen Schlepper verstärkt. 2015 nahm die türkische Polizei 341 Schlepper fest, mehr als viermal so viele wie im Jahr zuvor.

Cesme liegt nur vier Seemeilen von der griechischen Insel Chios entfernt. Zehntausende Flüchtlinge durchquerten im Sommer die Stadt auf ihrem Weg nach Europa. Jetzt riegeln Soldaten den Zugang zur Küste ab.

Bektas parkt den Wagen in einer Ruinenstadt am Ortsrand. In dem ehemaligen Flüchtlingslager liegen Plastikflaschen auf dem Boden verstreut, Sim-Karten, Kuscheltiere, Schwimmflügel. „Möge Gott uns beistehen“, steht in einer der Baracken an der Wand geschrieben. Zwischenzeitlich hausten bis zu tausend Menschen in dem Slum, erzählt Bektas. In der Neujahrsnacht räumte das Militär das Camp. Sicherheitskräfte deportierten die Migranten ins Landesinnere.

Die türkische Abschottungspolitik hat dazu geführt, dass an Orten wie Cesme kaum noch Flüchtlingsboote abfahren. Sie hat, anders von der EU erhofft, Migration nicht gestoppt, sondern lediglich verlagert.

In den ersten drei Januarwochen reisten 44.000 Flüchtlinge über die Türkei nach Griechenland, weniger als in November und Dezember, aber deutlich mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Flüchtlinge weichen auf entlegene, oft tödliche Routen aus. „Die Überfahrt nach Griechenland ist so gefährlich wie nie zuvor,“ sagt Bektas.

Unterstützer des Deals in Berlin und Ankara verweisen auf Marokko. Der Regierung in Rabat gelang es vor zehn Jahren, mithilfe der EU die Migration aus Nordafrika nach Spanien einzudämmen. Auch Libyens Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi wurden von europäischen Ländern für die Flüchtlingsabwehr eingespannt.

Die türkische Küste ist mehr als 2000 Kilometer lang. Sie lässt sich – selbst wenn Erdogan das wollte – nicht lückenlos kontrollieren. Zudem ist der Andrang der Flüchtlinge um ein Vielfaches größer als in Marokko. Im Sommer brachen an manchen Tagen bis zu 30 Boote gleichzeitig in Richtung Griechenland auf. Die Türkei kann den Seeweg nicht blockieren. Präsident Erdogan greift deshalb zu radikalen Mitteln.

Seit Januar müssen Syrer, die mit dem Schiff oder Flugzeug aus Drittstaaten wie dem Libanon oder Jordanien in die Türkei gelangen, ein Visum vorlegen. Da jedoch die wenigsten Syrer ein Visum erhalten, ist eine Mehrheit der Flüchtlinge gezwungen, über Land in die Türkei einzureisen.

Die türkische Regierung beteuert, die Landesgrenze würde syrischen Flüchtlinge offenstehen. Die offiziellen Übergänge jedoch sind faktisch geschlossen. Bald schon soll eine Mauer, drei Meter hoch, 200 Kilometer lang, das Land gegen Flüchtlinge abschotten.

An der Grenze nahe der Stadt Antakya patrouillieren an einem Januarnachmittag Soldaten. Panzer rollen zwischen den Checkpoints. In der Ferne sind die Bombeneinschläge aus dem syrischen Kriegsgebiet zu hören. Die Flüchtlinge nutzen Schleichwege durch Wälder und über Hügel.

Mehrere Syrer berichteten dem SPIEGEL unabhängig voneinander von illegalen Abschiebungen: Sie seien von türkischen Sicherheitskräften verhaftet, zum Teil misshandelt und nach Syrien deportiert worden.

Ein Ingenieursstudent aus Deir al-Sor im Osten Syriens sagt, er sei zwei Tage lang in einer Militärbaracke nahe der türkischen Grenzstadt Reyhanli eingesperrt worden. Er habe weder Essen noch Wasser bekommen. Die türkischen Soldaten hätten ihn geschlagen, ausgeraubt und ihn und weitere Flüchtlinge anschließend in einem Bus zurück über die Grenze nach Syrien gekarrt.

Nach internationalem Recht sind Abschiebungen in Bürgerkriegsländer verboten. Amnesty International hat im Dezember 130 Fälle illegaler Rückführungen von Flüchtlingen aus der Türkei nach Syrien und in den Irak dokumentiert. Die Betroffenen wurden über mehrere Wochen in Gefängnissen in der Türkei festgehalten, bis sie sich einverstanden erklärten, das Land zu verlassen, heißt es in dem Bericht.

Die Türkei bestreitet die Vorwürfe. Deutschland wiederum hält es offenbar nicht für nötig, dem Verdacht auf systematische Menschenrechtsverletzungen durch einen EU-Beitrittskandidaten nachzugehen. Die Bundesregierung will die Türkei schon bald zum sicheren Herkunftsstaat erklären. Das geht aus einer internen Weisung des Bundesinnenministeriums hervor, die dem SPIEGEL vorliegt.

Angela Merkel präsentiert sich der Welt als Managerin der Flüchtlingskrise. Dabei fragt sie nicht nach den Methoden, mit denen die Türkei den hässlichen Job der Flüchtlingsabwehr ausführt.

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