20. Juli 2015 · Kommentare deaktiviert für „Von syrischen ‚Gästen‘ förmlich überrannt“ · Kategorien: Nicht zugeordnet

Quelle: NZZ Webpaper

Die Flüchtlingspolitik der Türkei stösst an ihre Grenzen

Türkei

In der Türkei reisst der Zustrom von syrischen Kriegsflüchtlingen nicht ab. Die Regierung leistet grosszügig Unterstützung, steckt aber in einer Scheinwelt fest.

Marco Kauffmann Bossart, Istanbul

Im August 2012 erklärte der damalige Aussenminister und heutige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, sein Land sehe sich ausserstande, mehr als 100 000 syrische Flüchtlinge zu akzeptieren. Überschritten wurde dieses Limit jedoch bereits zwei Monate später. Inzwischen beherbergt die Türkei laut offiziellen Angaben rund 1,7 Millionen Syrer. Der Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge, Antonio Guterres, lobte im Februar vor dem Uno-Sicherheitsrat, kein anderes Land der Erde gewähre so vielen Menschen Gastrecht wie die Türkei. Abgesehen von Syrern haben Zehntausende von Irakern, Afghanen und Iraner am Bosporus Zuflucht gefunden.

Vorwürfe an den Westen

Die syrische Flüchtlingspopulation konzentriert sich auf die grenznahen Provinzen Hatay, Gaziantep, Sanliurfa, wo seit Beginn des Aufstandes gegen das Asad-Regime Zeltstädte mit Tausenden von Bewohnern entstanden sind. Internationale Beobachter beurteilen die Lager wegen der medizinischen Versorgung und sonstiger Betreuungsmöglichkeiten als vorbildlich. Von den 1,7 Millionen Syrern leben indes nur 15 Prozent in den Camps. Viele ziehen die Anonymität der Städte den rigiden Regeln in den Lagern vor, auch wenn sie mit baufälligen Unterkünften oder überbelegten Zimmern vorliebnehmen müssen.

Nach dem Beginn des Aufstands gegen das Regime in Damaskus vor vier Jahren rechnete Ankara damit, dass es nicht lange dauern würde, bis Asad gestürzt wird. Doch ein Ende der Feindseligkeiten ist nicht abzusehen, und der Flüchtlingsstrom hält an. Im Laufe dieses Jahres dürfte die Zahl der aufgenommenen Syrer laut Schätzungen der Uno auf 2,5 Millionen steigen. Die türkische Regierung beziffert die bis anhin gewährten Hilfeleistungen auf 6 Milliarden Dollar.

Strahlte Ankara zunächst den Willen aus, die Flüchtlingskrise selber bewältigen zu wollen, zeigt man sich jetzt offen für ausländische Unterstützung. Doch behinderten bürokratische Hürden die Auszahlung bereits genehmigter Mittel. Nach Aussagen westlicher Diplomaten scheiterten Projekte etwa an Bewilligungen für Nichtregierungsorganisationen. Während es der Türkei wohl am liebsten wäre, internationale Geber würden ihre Gelder direkt nach Ankara überweisen, insistieren diese auf einer Partizipation vor Ort. Die von europäischen Ländern und den Vereinten Nationen zur Verfügung gestellte Hilfe von 246 Millionen Dollar (Stand November 2014) mutet bescheiden an.

Ankara unterstellt den westlichen Industrieländern derweil Doppelbödigkeit in der Migrationspolitik: Von der Türkei werde erwartet, die Grenze zu Syrien oder dem Irak offenzuhalten; gleichzeitig schotte sich die EU ab. Griechenland und Bulgarien errichteten meterhohe Stacheldrahtzäune, um einen Übertritt nach Europa zu verhindern. Im Widerspruch zu internationalen Flüchtlingskonventionen hat Bulgarien laut Human Rights Watch wiederholt Migranten aufgegriffen und sie, ohne ihnen die Einreichung eines Asylantrags zu ermöglichen, in die Türkei abgeschoben. Sofia bestreitet dies.

Kurioser Rechtsrahmen

Rechtlich bewegen sich die syrischen Kriegsflüchtlinge auf unsicherem Boden. Sie erhalten lediglich ein temporäres Bleiberecht. Die Türkei unterzeichnete die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 mit einem geografischen Vorbehalt: Einzig Europäer haben demnach die Möglichkeit, in der Türkei als Flüchtling anerkannt zu werden. Während der Balkankriege der neunziger Jahre wurden muslimische Bosnier und Kosovaren aufgenommen. Zu Zeiten des Kalten Krieges akzeptierte die Türkei «Republikflüchtlinge» aus dem Ostblock. An regionalem Einschränkungen zur Genfer Konvention halten neben der Türkei auch Monaco, Kongo-Brazzaville und Madagaskar fest.

Im Oktober 2014 verabschiedete die Regierung eine Direktive, welche den Aufenthaltsstatus der Syrer genauer regelt. So wird eine Zwangsausschaffung verboten und der Zugang zum Arbeitsmarkt und in das Bildungswesen erleichtert. Letzteres hat insofern Bedeutung, als mehr als die Hälfte der 1,7 Millionen Syrer jünger als 18 Jahre alt sind – über 35 000 kamen in der Türkei zur Welt. Allerdings gibt es Zweifel, ob sich der verbesserte rechtliche Rahmen auch umsetzen lässt. Ein Grossteil der Syrer arbeitet zu Dumpinglöhnen schwarz, was zu Spannungen mit der Lokalbevölkerung führt, die sich vom Arbeitsmarkt verdrängt fühlt.

Neben der weit verbreiteten Bettelei erregen auch Engpässe in der öffentlichen Versorgung den Unmut der lokalen Bevölkerung. Das türkische Institut für strategische Studien im Nahen Osten (Orsam) schreibt, in den Spitälern der Grenzprovinzen gingen ein Drittel der Behandlungen an Syrer. Trotz gelegentlichen Übergriffen und abschätzigen Äusserungen deuten Umfragen auf eine hohe Akzeptanz der Kriegsflüchtlinge hin – allerdings unter der Annahme einer gelegentlichen Rückkehr in ihre Heimat.

Fern von der Realität

Die türkische Regierung nennt die Syrer euphemistisch «Gäste». Nur zeichnet sich seit geraumer Zeit ab, dass diese Gäste zahlreicher erscheinen und länger bleiben, als von den Gastgebern erhofft. Viele dürften versuchen, permanent in der Türkei zu bleiben. Die Autoren der Orsam-Studie empfehlen der Regierung, sich mit dieser Realität zu arrangieren. Dies sei Voraussetzung, um Spannungen in den Grenzgebieten zu entschärfen und Voraussetzungen für eine Integration zu schaffen.

Die blauäugigen bis widersprüchlichen Äusserungen zur Flüchtlingspolitik haben Ministerpräsident Davutoglu nicht geschadet. Erstaunlicherweise griffen die Oppositionsparteien das Thema vor der Parlamentswahl vom 7. Juni nicht auf. Sie verwendeten ihre Energie darauf, die von Präsident Erdogan forcierte Einführung einer Präsidialdemokratie zu bekämpfen.

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