09. Juli 2015 · Kommentare deaktiviert für „Sie halten nicht mehr lange durch“ · Kategorien: Griechenland · Tags:

Quelle: Zeit Online

Flüchtlinge in Griechenland

Überfüllte Auffanglager, gestoppte Essenslieferungen: Die Wirtschaftskrise in Griechenland erreicht die Allerschwächsten – die Flüchtlinge.

von Efthymis Angeloudis, Athen, Philip Faigle, Karsten Polke-Majewski und Zacharias Zacharakis, Athen

In diesen Tagen, da ganz Europa nach Brüssel blickt, die Griechen und Europäer über weitere Hilfsmilliarden verhandeln und die Banken in Athen keine großen Scheine mehr ausspucken, entlädt sich auf der Insel Lesbos in der griechischen Ägäis die Wut. Dutzende Männer und Frauen, Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak, haben sich auf einem Platz am Auffanglager von Kara Tepe versammelt. Sie formen mit ihren Händen das Victory-Zeichen und skandieren: „Freedom!“ in die Kameras eines griechischen Fernsehsenders. Sie sind zornig darüber, wie die Regierung in Athen, wie Europa mit ihnen umspringt.

Seit Wochen schon spielt sich auf Lesbos, der drittgrößten Insel des Landes, ein Drama ab, das es bisher nur selten in die deutschen Abendnachrichten schafft. Denn die meisten Medien sind derzeit damit beschäftigt, über die Schuldenkrise Griechenlands, über das Ringen des Landes um den Verbleib im Euro zu berichten. Darauf, was Tausenden Flüchtlingen in dem Krisenstaat geschieht, schaut fast keiner. Dabei hängen beide Krisen – die Schulden- und die Flüchtlingskrise – gerade enger zusammen als je zuvor. Die Wirtschaftskrise in Griechenland erreicht zunehmend die Allerschwächsten im Land, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Europa kommen.

karteVon der Ostseite von Lesbos sind es nur wenige Kilometer bis zur türkischen Festlandküste. Meist in der Nacht setzen die Menschen mit einfachen Schlauchbooten über, die oft nicht mehr als 20 Menschen fassen. Rund 25.000 sind allein hier seit Anfang des Jahres gekommen, noch einmal 25.000 reisten über die anderen Inseln nahe dem türkischen Festland nach Griechenland: Samos, Kos oder Chios. Spyros Galinos, der Bürgermeister von Lesbos, sagt: „Die Zahlen überwältigen uns. Es ist, als würde hier jeden Tag ein neues Dorf entstehen.“

Ein Teil der Flüchtlinge fährt gleich weiter mit der Fähre in die Hafenstadt Piräus, um sich in der Hauptstadt Athen durchzuschlagen – in der Hoffnung auf ein Ticket in den Norden Europas. Der größte Teil der Flüchtlinge aber bleibt in den heillos überfüllten Auffanglagern auf den Inseln. „Entwürdigend“ und „inhuman“, so beschreiben Hilfsorganisationen wie Amnesty International die Zustände in diesen Lagern. Manche von ihnen erinnerten mit ihren hohen Stacheldrahtzäunen eher an Gefängnisse als an Flüchtlingslager. Die Toiletten seien verstopft, die Matratzen schmutzig, die Unterkünfte oft zwei- oder dreimal überbelegt. Oft falle der Strom aus. Auf der Insel Kos campieren viele Flüchtlinge aus Mangel an Alternativen mittlerweile tagelang auf der Straße oder schlüpfen in stillgelegten Hotels ohne Strom und fließendes Wasser unter.

Der Fast-Bankrott Griechenlands hat die Lage in den vergangenen Wochen noch unerträglicher gemacht. Wegen der angespannten Finanzlage können die Behörden kein neues Personal anstellen – obwohl die Flüchtlingszahlen immer schneller steigen. Nach Angaben von Amnesty International kamen allein in den ersten drei Juniwochen jeweils 5.000 Flüchtlinge pro Woche auf den griechischen Inseln an, so viel wie sonst in mehreren Monaten.

Spätestens seit dieser Woche aber scheint die Situation in vielen Lagern zu eskalieren. Am Dienstag schrieben die zuständigen Regionalgouverneure einen Brandbrief nach Athen: Das zuständige Catering-Unternehmen für das Auffanglager in Samos habe seit Monaten kein Geld gesehen. Deshalb beliefere es seit Montag das Lager nicht mehr mit Nahrung. Die Behörden hätten keine andere Wahl gehabt, als die Türen der Flüchtlingslager zu öffnen. Die Flüchtlinge seien daraufhin in die Stadt gezogen, um selbst nach Essen zu suchen und irgendetwas zum Überleben zu finden. Organisationen wie das UNHCR, das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen und Human Rights Watch bestätigten die Darstellung der Gouverneure. Die Regierung in Athen hat mittlerweile mitgeteilt, dass das fällige Geld an das Unternehmen überwiesen wurde.

Die Krise nimmt auch das letzte Geld

Samos scheint kein Einzelfall zu sein. Im Internet kursiert ein Video, das zeigt, wie Flüchtlinge auf der Insel Lesbos einen Hilfskonvoi attackieren, angeblich, weil sie vom Stopp der Essenslieferungen in Samos gehört hatten.

Die Versorgungsengpässe in den Lagern treffen die Flüchtlinge auch deshalb hart, weil sie wegen der Bankenkrise nicht mehr auf eigene Reserven zurückgreifen können. Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen hat etwa die Filiale der Bank Western Union auf der Insel Kos seit einigen Tagen geschlossen – so wie alle Banken im Land. Western Union wickelt für Privatkunden den internationalen Geldverkehr ab; viele Flüchtlinge legen bei der Bank Geld zurück oder bekommen über deren Filialen Unterstützung von Freunden und Bekannten. Durch die Schließung der Filiale sei nun aber der Geldnachschub aus den Heimatländern abgerissen. Flüchtlinge, die sich bisher noch ein Zimmer leisten konnten, müssten deshalb nun auf der Straße schlafen.

Die griechische Regierung scheint der Situation kaum noch gewachsen zu sein. Zwar ließ sie im Juni rund 1.700 Flüchtlinge mit einer Fähre von Lesbos aufs Festland bringen. Doch auch in der Hauptstadt gibt es bei Weitem nicht genug Unterkünfte, um die Menschen zu versorgen. Viele leben unter freiem Himmel in der Gegend rund um den zentralen Omonia-Platz. Andere, die etwas Geld haben, kommen in den umliegenden, teilweise verwahrlosten Hotels unter. Die Nacht kostet 15 Euro oder mehr, die Menschen schlafen zusammengepfercht in Zimmern mit mehreren Betten.

Lange halten die meisten Flüchtlinge auch in Athen nicht durch. Nicht selten versuchen sie über den Bahnhof per Zug nach Thessaloniki zu gelangen, Griechenlands größter Stadt im Norden des Landes und das Tor zum Balkan. Von dort reisen sie dann weiter Richtung Norden. Wer sich das Ticket nicht leisten kann, tritt die Reise zu Fuß an: entlang der Bahngleise, die in den reichen Teil Europas führen, raus aus der Krise.

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siehe auch: Süddeutsche Zeitung

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