05. Mai 2015 · Kommentare deaktiviert für »Da versucht uns jemand für dumm zu verkaufen« – jw · Kategorien: Mittelmeer · Tags:

junge Welt

Europa könnte langfristig Fluchtursachen bekämpfen und kurzfristig Flüchtlinge retten. Tut es aber nicht.

Ein Gespräch mit Don Zerai ***

Interview: Marco Omizzolo und Roberto Lessio

Sie haben die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union als »verbrecherischen Krieg« bezeichnet. Warum?

In den letzten 15 Jahren sind wir von einer Tragödie zur anderen übergegangen und es hat sich nicht das Geringste geändert. Europa zieht es vor, wegzuschauen, Milliarden Euro für Waffen auszugeben und die Rüstungslobby zufriedenzustellen. Gleichzeitig wird behauptet, es sei kein Geld da, um die Rettungsmission Mare nostrum im Mittelmeer weiterzuführen. Das ist eine Kriegserklärung an die Flüchtlinge und Migranten. Sie im Meer ertrinken zu lassen, ist nur eine passive Art der Kriegsführung. Eines unerklärten Krieges. Dieses Europa trifft verbrecherische politische Entscheidungen und schert sich einen Dreck um den Schutz der Flüchtlinge.

Sie meinen, Europa hat das Mittelmeer zu einer militärischen Grenze gemacht und in einen Friedhof verwandelt.

Europa hat in den letzten fünfzehn Jahren nichts anderes getan als Barrikaden zu errichten und so die Schlepperorganisationen zu fördern. Je mehr sich die Tore schließen, umso mehr Geld werden die Schlepper verdienen. Wenn die EU diese Leute wirklich bekämpfen wollte, hätte sie legale Einreisemöglichkeiten schaffen müssen. Warum tun Europa und die UNO nichts dafür, in Somalia wieder Frieden herzustellen oder den Grenzstreit zwischen Äthiopien und Eritrea zu schlichten? Warum tun sie nichts, damit Diktatoren wie Afewerki in Eritrea oder Al-Baschir im Sudan ihre Macht abgeben und einen echten Demokratisierungsprozess einleiten? Wenn es gescheiterte Staaten wie Eritrea, Somalia, den Sudan, Mali oder die Zentralafrikanische Republik gibt, die Ursache für den Exodus sind, dann muss die UNO aktiv werden, um deren Bevölkerungen Schutz zu gewähren.

Frontex wurde als Grenzschutzagentur präsentiert, die in der Lage sei, angemessen auf das Problem der gefährlichen Flucht über das Meer zu reagieren.

Frontex war das Kind der Sicherheitspolitik der Festung Europa, um das bisschen verbliebenen Wohlstand auf dem Alten Kontinent zu verteidigen und zu ignorieren, was außerhalb der eigenen Grenzen passiert. 2013 sagten sie uns, dass zukünftig im Mittelmeerraum keine Tragödien wie in Lampedusa mehr vorkämen. Und dennoch gab es 2014 mehr als 3.600 Tote, während wir in diesem Jahr bereits 1.700 Bootsflüchtlinge gestorben sind. Da versucht uns jemand für dumm zu verkaufen.

In Italien schlagen neuerdings viele Politiker und selbst Innenminister Angelo Alfano vor, die Seelenverkäufer zu versenken. Was halten Sie davon?

Ich wüsste gern, wie sie dabei vorgehen wollen. Was heißt es, diese Kähne zu versenken? Sie zu bombardieren, bevor die Menschen an Bord gehen, bedeutet – damit das klar ist – eine Kriegserklärung an Libyen, von wo aus die meisten in See stechen. Um diese alten Kähne zu versenken, muss man in libysches Hoheitsgebiet eindringen. Das kann man mit Billigung der dortigen Regierung oder auf illegale Weise tun. Im ersten Fall frage ich mich: Von welcher Regierung will man sich die Genehmigung holen? Von der, die in Tobruk sitzt? Kann man von einem Kabinett, das nichts kontrolliert, die Autorisierung für eine solche Operation bekommen? Im zweiten Fall müssen Sie sich mit denjenigen anlegen, die das entsprechende Gebiet kontrollieren. Das kommt einer Kriegserklärung gleich. Wer solche Sachen erzählt, redet doch nur, um das Maul aufzureißen.

Welche Vorschläge gibt es, um dieses kriminelle Vorgehen gegen die Flüchtlinge zu stoppen?

Mindestens drei. Erstens muss man dem Übel an die Wurzel gehen, das heißt in den Herkunftsländern die Fluchtursachen beseitigen. Das ist ein langfristiges Projekt, aber man muss jetzt damit beginnen. Zweitens müssen die Vertriebenen in den Transitländern geschützt werden. Wenn ein Eritreer nach Äthiopien oder in den Sudan flieht, müssen dort menschenwürdige Lebensbedingungen geschaffen werden. Drittens bedarf es eines europäischen Aufnahmeprogramms für eine erhebliche Anzahl von Personen, die vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR als Verfolgte anerkannt sind und internationalen Schutz benötigen, um legal in das Land einreisen zu können, das ihnen Aufnahme und Asyl gewähren kann. Das sind Vorschläge, die Europa nicht hören will, während an seinen Grenzen Tausende Flüchtlinge unter Mithilfe von kriminellen Banden und staatlichen Apparaten verraten und verkauft werden.

Zuerst erschienen in der italienischen Tageszeitung »il manifesto« vom 24.4.2015.

Übersetzung: Andreas Schuchardt

*** Don Zerai ist Priester, Gründer der Entwicklungshilfeagentur Habeshia (AHCS) und Kandidat für den Friedensnobelpreis. Er stammt aus Eritrea.

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