02. Januar 2014 · Kommentare deaktiviert für Syrien: Belagerung und Hunger als Waffe (medico) · Kategorien: Syrien · Tags:

„Lebt als Tiere oder sterbt als Freie“

Hun­ger und Kälte, Ge­walt und De­mü­ti­gun­gen im sy­ri­schen Kriegs­all­tag. Um ihren Wil­len zu bre­chen, setzt das sy­ri­sche Re­gime auf struk­tu­rel­le Ge­walt gegen die Kör­per der Auf­stän­di­gen.

Ansar Jasim auf medico.​de

Es ist kalt, Essen gibt es nicht mehr. Be­son­ders jetzt nicht mehr, wo es an­ge­fan­gen hat, zu schnei­en. Vor­her konn­ten die Be­woh­ner in den be­la­ger­ten Ge­bie­ten Ra­dies­chen oder Pe­ter­si­lie pflan­zen. Nun sind die Böden zu­ge­fro­ren. Und es ist dun­kel. Wie auf dem furcht­er­re­gen­den nächt­li­chen Bild aus dem ein­ge­schnei­ten Homs, das un­längst von lo­ka­len Ak­ti­vis­tIn­nen über so­zia­le Me­di­en ver­brei­tet wurde. Das Re­gime pro­du­ziert eine städ­ti­sche Geo­gra­phie der Ge­walt: Wel­che Ge­bie­te das Re­gime fak­tisch kon­trol­liert und in wel­chen Ge­bie­ten es die Kon­trol­le ver­lo­ren hat und die Be­woh­ne­rIn­nen zum Auf­ge­ben zwin­gen will, lässt sich nicht nur an in­tak­ten oder eben zer­stör­ten Re­gime­sym­bo­len ab­le­sen. Es ist per­fi­der: Es ist eine Frage des Lichts. Da wo sich die Men­schen nicht er­he­ben oder kon­form ver­hal­ten, gibt es Strom, da gibt es Licht und sogar Warm­was­ser. Die non­kon­for­mis­ti­schen Vier­tel, die sich er­ho­ben haben, blei­ben in der Dun­kel­heit, hier herrscht Hun­ger und Kälte.

Das sy­ri­sche Re­gime setzt auf struk­tu­rel­le Ge­walt gegen die Kör­per derer, die nicht mehr län­ger durch das Re­gime fremd­be­stimmt wer­den woll­ten. So will es das Ver­hal­ten der Be­woh­ne­rIn­nen in den be­la­ger­ten Ge­bie­ten kon­trol­lie­ren. Das Re­gime bie­tet die­sen Men­schen einen kla­ren Tausch an: ihr könnt leben als Tiere und wer­det ver­sorgt – oder ihr sterbt als Freie im Elend. „Hun­gern oder Nie­der­kni­en“ lau­tet die For­mel, die als Lo­sung an die Check­points und Au­ßen­mau­ern be­la­ger­ter Stadt­tei­le ge­sprüht wird. Die ag­gres­si­ve Ein­he­gung gan­zer Stadt­vier­tel dient zu­gleich als Ab­schre­ckung – kei­ner soll auch nur ver­su­chen, sie zu über­win­den – und zur hier­ar­chi­schen Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen zwei Räu­men und zwei Be­völ­ke­rungs­grup­pen: Den­je­ni­gen, die wei­ter­hin als „sy­ri­sche Bür­ge­rIn­nen“ gel­ten und jenen, denen un­längst – so sie sich wei­ter­hin zum Auf­stand be­ken­nen – vom Staats­prä­si­den­ten selbst die Bür­ger­schaft ab­er­kannt wurde. Auch for­mell sind sie nun­mehr vo­gel­frei.

Der sy­ri­sche Autor Omar Kad­dour aus Da­mas­kus ana­ly­siert die Si­tua­ti­on mit den fol­gen­den Wor­ten: „Wir haben es hier mit einem um­fas­sen­den Sys­tem von kör­per­li­cher und sym­bo­li­scher Ge­walt zu tun. Zu­erst wer­den die Men­schen ent­ehrt, indem sie als Tiere be­zeich­net wer­den, die ganz all­ge­mein als min­der­wer­ti­ge Krea­tu­ren gel­ten. Und dann wer­den sie ge­quält wie Tiere, ein Ver­hal­ten, das wie­der­um als völ­lig nor­mal hin­ge­stellt wird: Wer als Tier gilt, kann auch wie ein Tier be­han­delt wer­den.“(Süd­deut­sche Zei­tung, 12.​12.​13)

Stra­te­gi­sches Aus­hun­gern in Sy­ri­en
Das Re­gime be­zweckt aber mehr als nur sym­bo­li­sche Ge­walt aus­zu­üben. Es nutzt das Aus­hun­gern als Tech­nik der Macht über Kör­per, als Bio­macht. Bio­macht ist die Macht über Kör­per zur Kon­trol­le von Ver­hal­ten, zur Kon­trol­le von Men­schen als Grup­pe. Es sind Tech­ni­ken, die „nicht auf den Ein­zel­nen, son­dern auf die ge­sam­te Be­völ­ke­rung zie­len“ (Mi­chel Fou­cault). Re­gel­mä­ßig bie­tet das Re­gime den be­la­ger­ten Vier­teln Waf­fen­still­stän­de an. Erst letz­te Woche schei­ter­te das Re­gime in Mouad­ha­miy­ya. Die süd­west­lich von Da­mas­kus lie­gen­de Stadt soll­te an allen hohen Ge­bäu­den der Stadt die Flag­ge des Re­gimes his­sen, im Ge­gen­zug dürf­ten klei­ne Es­sen­spor­tio­nen in die Stadt ge­lan­gen. Aber nicht ohne wei­te­re Er­nied­ri­gung: das Essen soll­te aus der Küche der 4. Ar­mee­di­vi­si­on stam­men, die seit Mo­na­ten die Stadt be­la­gert und ter­ro­ri­siert hatte.

Vor­erst hat die Re­gime­po­li­tik nicht die ge­wünsch­te Wir­kung, die Waf­fen­still­stän­de in den meis­ten be­la­ger­ten Vier­teln sind ge­schei­tert. Doch sie blo­ckie­ren die Ak­ti­vis­tIn­nen: Statt sich auf po­li­ti­sche Ar­beit zu kon­zen­trie­ren und Kon­zep­te für al­ter­na­ti­ve Struk­tu­ren zum Re­gime wei­ter­ent­wi­ckeln zu kön­nen, sind viele In­itia­ti­ven in­zwi­schen auf das täg­li­che Über­le­ben aus­ge­rich­tet. Und wenn es nicht darum geht, Essen zu be­sor­gen, dann geht es darum, sich vom Hun­ger ab­zu­len­ken.

Auch wenn die Ak­ti­vis­tIn­nen immer wie­der ihre Stand­fes­tig­keit (sum­oud) be­wei­sen. Die Be­la­ge­rung ver­än­dert. So schreibt ein Ak­ti­vist aus dem seit Mo­na­ten ein­ge­schlos­se­nen pa­läs­ti­nen­si­schen Flücht­lings­la­ger Yar­mouk in Da­mas­kus: „In der Be­la­ge­rung lernst du, dass du das Ver­falls­da­tum von Pro­duk­ten nicht liest, damit dein Kör­per nicht von einem Schau­dern durch­zo­gen wird, wenn du fest­stellst, dass das Ver­falls­da­tum schon lange ab­ge­lau­fen ist. In der Be­la­ge­rung lernst du auch, dass du nicht al­lei­ne isst, damit dein Ge­wis­sen nicht beim ers­ten Bis­sen er­wacht und dich fragt: Sind jene, die essen und jene, die nicht essen, gleich?“

me­di­co un­ter­stützt die sy­risch-​pa­läs­ti­nen­si­sche Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on Jafra Fo­un­da­ti­on mit Spen­den­gel­dern in ihrer Über­le­bens­hil­fe für die not­lei­den­de Be­völ­ke­rung in Yar­mouk und in pa­läs­ti­nen­si­schen Nach­bar­schaf­ten in Homs.

Spen­den­for­mu­lar

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