08. Februar 2013 · Kommentare deaktiviert für Tunesien, größte Demonstration in der Geschichte des Landes, „tagesschau“ 08.02.2013 · Kategorien: Tunesien

Massenproteste beim Begräbnis Chokri Belaids

Tunesiens Wut am Tag der Trauer

Der Trauerzug für den ermordeten Oppositionellen Belaid wurde zur wohl größten Demonstration in der Geschichte Tunesiens: 1,4 Millionen Menschen waren auf der Straße; in ihre Trauer mischte sich auch Wut über die Regierung und die wirtschaftliche Misere des Landes.

Von Mathias Becker, zurzeit in Tunis, für tagesschau.de

„[…] „Ich habe diese Regierung gewählt, weil sie Wohlstand und Frieden versprochen hat“, sagt eine Bewohnerin des Arbeiterviertels, in dem auch der Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivist Belaid groß geworden ist. „Den Wohlstand haben sie nicht gebracht, aber jetzt nehmen sie uns auch noch den Frieden!“ Sie ist nicht die einzige, die die Ennahda-Partei von Ministerpräsident Hamdi Dschebali für den Mord an Belaid verantwortlich macht. Auch wenn es keine Beweise für eine Verstrickung gibt – jeder kennt die Geschichten von den Angriffen und Einschüchterungen radikaler islamistischer Gruppen gegen Liberale, Gewerkschafter, Künstler im ganzen Land. Nicht konsequent verfolgt und teilweise sogar ermutigt von Ennahda, sind sie das Klima, in dem der Mord gedeihen konnte.

[…] Das Versprechen Dschebalis, sein Kabinett gegen eine Technokraten-Regierung zu ersetzen, reicht den Menschen nicht. „Dschebali – Mörder!“, rufen die Demonstranten, als der Pick-Up mit dem Sarg sich wie in Zeitlupe durch die Menschenmenge schiebt. Auf der Ladefläche drängen sich Verwandte Belaids, darunter seine Witwe Basma Khalfaoui, politische Freunde sowie eine handvoll Militärs, mindestens einer stets damit beschäftigt, die Galionsfigur des Wagens zu stützen: Auf dem Armaturenbrett steht – wie versteinert – Belaids siebenjährige Tochter Faizouz, die Hand zum Victoryzeichen erhoben.

Auf dem weitläufigen Platz der Märtyrer mit dem benachbarten Friedhof El Jellaz bekommen die Demonstranten ein Bild von dem, was die Helikopterpiloten über ihren Köpfen schon längst wissen. Der Trauerzug ist zur größten Demonstration angeschwollen, die Tunis je gesehen hat. „Das sind mehr Menschen als am 14. Januar 2011“, sagt Afef Tlili erstaunt. Die 29-jährige Politikberaterin war dabei, als das Volk Präsident Ben Ali stürzte. Doch bei diesem Anblick kommen selbst ihr die Tränen. […] Später bestätigt das tunesische Innenministerium: 1,4 Millionen Menschen waren auf der Straße, halb Tunis, wenn man so will. Anwälte sind darunter, Ärzte, Studenten, Arbeiter, Geschäftsleute und selbst viele streng gläubige Muslime. Längst nicht alle Demonstranten teilen die linken, weltlichen Ansichten Belaids. Doch ihre Forderung nach einem gewaltfreien, demokratischen Tunesien hat sie heute vereint.

„Dschebali, Allah wird dich holen kommen!“, droht eine Demonstrantin dem Parteichef der Islamisten. Auch die alten Parolen gegen das Ben-Ali-Regime sind zu hören: „Das Volk will das Ende des Systems!“

Mit dem Einzug des Pick-Ups auf das Gelände des Friedhofs kippt die Stimmung an den Rändern der Kundgebung. Jugendliche suchen die Auseinandersetzung mit den Ordnungskräften, parkende Wagen gehen in Flammen auf. Die Polizei antwortet mit Tränengas, dessen beißender Gestank bald schwer über dem weitläufigen Friedhof hängt. Die Mehrheit lässt sich davon nicht beeindrucken. Mit Taschentuch-Fetzen in der Nase und Tränen in den Augen tragen sie Belaids Sarg zu Grabe. […]“

Kommentare geschlossen.