07. Mai 2018 · Kommentare deaktiviert für „Türkische Schlepper ändern ihre Taktik“ · Kategorien: Griechenland, Türkei · Tags:

NZZ | 07.05.2018

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise war die Landroute über Ostgriechenland nahezu unbezwingbar. Inzwischen haben sich die Fluchtrouten verlagert.

Marco Kauffmann Bossart, Istanbul

Die Aprilzahlen haben die griechischen Behörden aufgeschreckt: Innerhalb von vier Wochen überquerten 2900 Migranten von der türkischen Seite her den Grenzfluss Evros. Der monatliche Durchschnitt von 2017 war vier Fünftel tiefer. Damit transportierten die Schlepper laut dem Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) mehr Menschen über den Landweg in das EU-Land als über die Ägäis. Migrationsminister Dimitris Vitsas bezeichnete den Trend als alarmierend, zumal der Druck auf der Meeresroute ebenfalls zugenommen hat.

Keine Entspannung in der Ägäis

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 waren Hunderttausende, in Schlauchboote gepfercht, auf einer der Ägäisinseln gelandet. Die Landgrenze, am östlichsten Zipfel Griechenlands, spielte damals eine Nebenrolle. Sie galt als so gut wie unbezwingbar. Einige Grenzabschnitte sind vermint, und auf beiden Seiten standen sich schwerbewaffnete Soldaten und Grenzbeamte der verfeindeten Nato-Partner gegenüber. Bis Anfang 2013 wurde der Weg über den Evros hingegen als Hauptroute genutzt. Das änderte sich erst mit dem Bau eines Grenzzauns.

Was erklärt die jüngste Verlagerung auf den Fluchtrouten? Wer über den Evros watet, hat grössere Chancen, dass er sich nach einer Registrierung frei im EU-Land bewegen kann. Migranten, die hingegen über die Ägäis nach Griechenland gelangen, werden meist monatelang in völlig überbelegten Aufnahmelagern (Hot Spots) festgehalten. Das höchste griechische Verwaltungsgericht übte im April zwar Kritik an dieser Praxis. Die Bewegungsfreiheit der Schutzsuchenden dermassen einzuschränken, lasse sich nicht durch ein öffentliches Interesse rechtfertigen.

Doch wollen die griechischen Asylbehörden an dieser Regelung festhalten, da sonst an einem Grundpfeiler des EU-Türkei-Flüchtlingspakts von 2016 gerüttelt würde. Dieser sieht vor, dass Migranten belohnt werden sollen, die in der Türkei bleiben und sich von dort um das Recht zum Aufenthalt in der EU bemühen. Schutzsuchende, die es trotzdem auf eine der Ägäisinseln schaffen, sollen nach Prüfung ihres Asylantrags wieder in die Türkei zurückgeschickt werden. Dies ist allerdings nur in bescheidenem Umgang geschehen. Seit dem Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens schafften es von der Türkei rund 70 000 Migranten nach Griechenland. In die andere Richtung waren es weniger als 2000. Daher kommt die griechische Asylbürokratie nicht umhin, die Verlegung auf das Festland zu beschleunigen.

Wegschauen am Grenzfluss?

An Attraktivität gewonnen hat die Landroute zudem durch offenbar laschere Kontrollen. Griechische Behörden beschuldigen das Nachbarland, absichtlich wegzuschauen und dadurch die EU unter Druck zu setzen. Ankara fühlt sich verschaukelt, weil Brüssel wegen der Menschenrechtslage die Visaliberalisierung für Türken auf unbestimmte Zeit vertagt hat.

Laut Medienberichten und Augenzeugen halten sich aber auch die hellenischen Grenzschützer zurück. Auslöser war offenkundig die Inhaftierung von zwei griechischen Grenzsoldaten durch die Türkei. Der Offizier und ein Untergebener hatten sich Anfang März bei schlechtem Wetter verirrt und liefen auf türkischem Boden einer Patrouille in die Hände. Sie warten in einem Hochsicherheitsgefängnis auf ihren Prozess.

Vor diesem Hintergrund will Griechenland allem Anschein nach nicht riskieren, dass noch mehr Beamte zu potenziellen Geiseln werden. Der türkische Machthaber sprach sich ohne Hemmungen für einen Tausch mit türkischen Offizieren aus, die nach dem Putsch nach Griechenland geflüchtet waren.

Afghanen abgefangen

Der Andrang von Flüchtlingen im Osten Griechenlands hat die Behörden kalt erwischt. Am Grenzort Fylakio existieren nur rudimentäre Betreuungseinrichtungen. Das UNHCR beschreibt die Situation dort als unhaltbar.

Gleichzeitig ist die Fluchtbewegung in der Ägäis nicht etwa zum Stillstand gekommen: Von Januar bis April 2018 traten über 8000 Menschen die gefährliche Überfahrt an, grossmehrheitlich Syrer und Iraker. Das entspricht einer Zunahme von rund 60 Prozent gegenüber den ersten vier Monaten 2017. Die türkische Nichtregierungsorganisation Asma, die soziale Nothilfe und Übersetzungsdienste für Flüchtlinge anbietet, sah sich gezwungen, ihren Acht-Stunden-Betrieb in der Küstenstadt Izmir auszubauen. In der Nacht werde man zwei oder drei Mal zu Einsätzen aufgeboten, sagt Esra Simsir von Asma, die mit den Behörden zusammenarbeitet.

Die Gründe für den anhaltenden Exodus sind vielschichtig. Manche Syrer, die schon länger in der Türkei leben, befürchten eine unfreiwillige Repatriierung, zumal sie im Gastland nur ein temporäres Aufenthaltsrecht haben und keine Perspektiven sehen. Zudem provozieren die Kampfhandlungen in Syrien neue Flüchtlingsströme.

Erdogan erklärte, die inzwischen 3,7 Millionen Syrer könnten nicht auf Dauer in der Türkei bleiben. In den vergangenen eineinhalb Jahren traten laut amtlichen Angaben rund 150 000 Syrer die Reise in ihre Heimat an. In Istanbul organisieren offizielle Stellen gar Busse für Rückkehrer. Nach der türkischen Offensive in Afrin sei das zuvor grossmehrheitlich von Kurden bewohnte Gebiet sicher, behauptet Ankara.

Im Schatten der westlichen Aufmerksamkeit erlebt die Türkei derweil selber einen ungewöhnlichen Ansturm von Flüchtlingen an der Grenze mit Iran. Innerhalb von drei Monaten sollen 18 000 Afghanen bei Van illegal die Grenze überquert haben. Die Türkei schaffte in Absprache mit der afghanischen Regierung umgehend mehrere hundert mit Flugzeugen nach Kabul aus. Es gab erhebliche Zweifel, ob die Aktion – wie von den Behörden behauptet – mit Einverständnis der Betroffenen erfolgte.

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NZZ | 08.05.2018

Syrische Flüchtlinge überqueren den Evros – Fotoserie

 

 

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