15. Januar 2018 · Kommentare deaktiviert für „Migranten auf der Balkanroute: Gestrandet in der Ruine von Sid“ · Kategorien: Balkanroute, Kroatien, Schengen Migration, Serbien · Tags:

Spiegel Online | 13.01.2018

Wie sieht es aus, wenn die EU zumacht? In den Balkanländern sitzen bis zu 10.000 Menschen fest, hausen in Wäldern, Zelten, Fabrikruinen. Ein Besuch an der serbisch-kroatischen Grenze.

Von Nidzara Ahmetasevic, Eva Thöne und Maria Feck

15 Kilometer sind es von der Kleinstadt Sid bis zur kroatischen Grenze. Man lässt die leerstehenden Fabrikhallen am Bahnhof links liegen, kreuzt die Bahnschienen. Ist dann auf der Landstraße lange umgeben von winterbraunen Äckern und weitem Himmel. Läuft durch das Dorf Batrovci, wo die Zeit seit den Jugoslawien-Kriegen stehengeblieben scheint, vorbei an Häusern ohne Putz, Schuppen aus Plastikplanen und knorrigen Apfelbäumen. Schlägt sich nach der Brücke, unter der die Lkws in Schlangen auf die Grenzkontrollen warten, in den Wald. Durchquert ein paar Meter Gestrüpp. Wandert dann die letzten Kilometer zwischen Buchen, das Licht scheint jetzt im Winter auch an grauen Tagen milchig-hell durch die blattlosen Äste.

Google Maps zeigt einem auf dem Handy als schwarze Linie, wo die EU beginnt. Ob man es über die Grenze geschafft hat, sieht man auch an der Farbe, mit der Bäume markiert sind. Auf der serbischen Seite sind die, die gefällt werden sollen, mit rot-weißer Farbe bemalt. Auf der kroatischen mit orangefarbener.

Die, die von Serbien aus in die EU wollen, aber nicht dürfen, nennen es „das Spiel“. Wer viel Glück hat, wird dabei nicht von der kroatischen Polizei erwischt, die die Grenze mit Drohnen und Helikoptern überwacht. Wer noch mehr Glück hat, wird auch 300 Kilometer später in Zagreb nicht aufgegriffen. Fast alle haben in diesen Tagen Pech.

Es sei gut, Musik zu hören, wenn man sich aufmacht zur Grenze, sagt Walid. „Dein Herz ist groß“, singt die algerische Sängerin Souad Massi auf seinem Smartphone mit einer Stimme, die sich sanft an die Ohren schmiegt. Walid, 26, dunkle Augen und unkaputtbares Lachen, ist einer von bis zu 10.000 Menschen, die laut Schätzungen des Uno-Flüchtlingshilfswerks in den Balkanländern leben, in Flüchtlingslagern, oder, wie Walid, außerhalb der offiziellen Camps. Die meisten von ihnen wollen nach Südeuropa. Und vor allem weiter in den Norden.

Neunmal schlug sich Walid in den vier Monaten, die er in Sid ist, in Wälder, um in die EU zu kommen. Einmal fuhr er im Laderaum eines Lkws mit. Zehnmal wurde er von der kroatischen Polizei aufgegriffen und zurück nach Serbien gebracht.

Tagsüber trifft sich Walid mit den anderen, die nur die Kleidung am Leib und das Handy dabeihaben, in einer Fabrikruine am Stadteingang von Sid. Afghanen, Pakistaner, Marokkaner, Algerier, Kosovo-Albaner reihen sich heute um 11 Uhr in die Schlange ein, eine Gruppe spanischer Ehrenamtlicher verteilt zwischen Eisenstelen und weißen Mauerresten Frühstück und Tee. Zerdrückte Eier verschwinden in Hosentasche, Weißbrotbatzen werden hinter Gürtel gesteckt.

70 junge Männer und Jugendliche sind es an diesem Morgen. Vor einigen Tagen kam die Polizei. Sie kommt immer, wenn mehr als 100, 150 Leute in der Fabrik sind. Die, die dann nicht schnell genug verschwinden, werden in die Flüchtlingslager gebracht. Aber jeder tauche früher oder später wieder auf, sagt ein Ehrenamtlicher. Es ist nur eine weitere Extraschleife, die umso mehr an den Kräften zehrt, je weniger Geld man hat. Bus und Bahn kosten, aber schonen die Beine. Und aus dem geschlossenen Lager Presevo an der mazedonischen Grenze, wo die Polizei viele Menschen hinbringt, kann man am einfachsten ausbrechen, wenn man einen Schlepper bezahlt.

Die Mediziner von „Ärzte ohne Grenzen“, die zweimal pro Woche in der Ruine behandeln, diagnostizieren Krätze und häufig Knieprobleme, weil die Männer so viel laufen. Manche, die aus Kroatien zurückgeschickt werden, tragen auf dem Rücken Blutergüsse und Platzwunden, wurden ausgeraubt, und das nicht von Schleppern. Auch heute erzählen Männer mit blaugrün geprügelten Augen von Faustschlägen und Tritten durch Polizisten.

Die kroatische Polizei antwortet auf Anfrage, es habe Untersuchungen wegen „angeblichem illegalem Verhalten der kroatischen Polizei gegenüber Migranten“ gegeben. Die Untersuchungen hätten den Verdacht aber nicht bestätigen können. Ein Sprecher schreibt in einer E-Mail: „Wir wollen Sie daran erinnern, dass illegale Migranten alles versuchen, um die effektive Arbeit der Polizei an der Grenze zu verhindern. Sie zerstören ihre Papiere, sie machen Falschaussagen über ihre Herkunft – und auch über illegale Handlungen von Polizeibeamten.“

Aber es gibt mittlerweile zu viele Berichte. In einer Datenbank dokumentieren die ehrenamtlichen Helfer die Fälle auf dem Balkan, im November veröffentlichte „Ärzte ohne Grenzen“ einen Report.

13 Kilometer nordöstlich von Sid: In einem Zimmer im Flüchtlingscamp Principovac nehmen sechs eiserne Doppelbetten fast den ganzen Platz ein. Auf dem schmalen freien Streifen PVC-Boden stillt eine Mutter ihren Sohn und trauert um ihre Tochter.

In den vergangenen sieben Monaten starben an der serbisch-kroatischen Grenze sieben Menschen. Fast alle verloren ihr Leben, weil sie sich unter Züge hängten oder versuchten, von Brücken auf Lastwagen zu springen. Die siebte war Madina Hussiny, ein sechsjähriges Mädchen aus Afghanistan. Sie starb Ende November, nachdem die kroatische Polizei sie zurück nach Serbien geschickt hatte.

Die Polizei setzt die Menschen, die sie aufgreift, kurz hinter der Grenze ab, häufig auf Feldwegen, wo manche erstmal im nächsten Supermarkt fragen müssen, wo sie überhaupt sind. Madina wurde auf der Bahnstrecke zurückgeschickt, lief mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern nachts auf den Gleisen, die das serbische Sid mit dem kroatischen Tovarnik verbinden.

Dort erfasste sie ein Zug. Madina starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Jetzt, in dem Zimmer im Camp Principovac, weint die Mutter, sodass man nicht fragen, sondern sie nur in ihrer Trauer lassen kann; das Grab von Madina am Rande Sids ist frisch, ein brauner Erdhügel, auf dem noch kein Grün wächst.

Dann sagt eine erwachsene Schwester, dass die Familie sich mit Hilfe einer NGO entschlossen habe, Anzeige gegen die Polizisten zu erstatten, die sie zurückschickten, weil sie ihnen den Zugang zum Asylverfahren versperrten. Das Lager Principovac liegt nur 50 Meter von einem Grenzübergang entfernt, aus den Fenstern sieht man kroatische Weinreben. Am Ende, sagt die Schwester, wollen sie nach England.

Auf Fotos vom algerischen Mittelmeerstrand posiert Walid mit freiem Oberkörper als Player. Heute wiegt er zehn Kilo weniger, die Wangenknochen zeichnen sich ab. Die Schultern sind noch immer breit: Walid trägt fünf Schichten Kleidung. Jacke, Pulli, Pulli, Sporthemd, Unterhemd. Das Thermometer zeigt an diesem Morgen minus 3 Grad. Er ist immer draußen.

Walid sagt: „Es ist mein Leben.“ In Algerien bemalte er für 100 Euro Monatslohn Gipsdekorationen von Moscheen, zwischendurch fand er immer wieder gar keine Arbeit. Heute ist er ein Wanderer, ließ Bruder und Mutter zurück, kam über die Türkei nach Griechenland, lief dann über Mazedonien in den Kosovo und nach Serbien, will nach Schweden. Er denkt, er kann dort als Türsteher 300 Euro im Monat verdienen. Auch falls er eines Tages ankommt, wird er kaum eine Chance auf Asyl haben.

Wer es sich leisten kann, mietet sich in Sid in einem der wenigen Hotels ein. Schlepper bieten Pauschalen an, Übernachtungen inklusive. Seit Herbst können Iraner ohne Visum nach Serbien einreisen. Es kommen Ingenieure, die in ihrer Heimat als Taxifahrer arbeiten mussten, Biologinnen, die trotz Studium keinen Job finden. Sie kommen als Urlauber, versuchen aber, mit Schleppern in die EU zu gelangen. Für 7000 Euro, ein neues Leben zum Pauschalpreis. Wer wenig oder gar kein Geld hat, schläft wie Walid in einem der vielen leerstehenden Häuser in Sid oder neben der Bahnstrecke, versteckt zwischen Gestrüpp, Hagebuttensträuchern und jungen Birken.

Es gab schon Messerstechereien in der Ruine, Prügeleien zwischen Afghanen und Algeriern. Ein Apotheker verkauft das Anti-Epileptikum Rivotril unter der Ladentheke, das befreit manche von Angst, macht andere aber auch aggressiv.

Man merkt in Sid schnell, wer noch einen Lebenssinn in sich trägt.

Da ist Walid mit seinem Überlebenskünstlerlächeln oder Jamal, 19, noch so jung, dass all das hier an ihm abzuprallen scheint. Während sich alle ihre Sportsocken über die Enden der Hosenbeine ziehen, damit die Wärme nicht entkommt, lässt er noch immer die Knöchel frei, trägt einen neonfarbenen Kapuzenpulli, enge Jeans und Markenturnschuhe, als sei das hier Schaulaufen auf dem Schulhof.

Da ist aber auch der Marokkaner mit dem Flackern im Blick, der sich von den anderen Männern morgens den Bart schneiden lässt, aber jeden, der ihm fremd ist, beschimpft. Da ist der Übersetzer aus Afghanistan, der seit 16 Monaten in Sid lebt und jeden Tag die zwei namenlosen Welpen, die in der Ruine zwischen Strohballen leben, über die Scherben trägt, damit sie sich nicht in die Pfoten schneiden. Der mit so sanfter Stimme von seinem zweijährigen Sohn spricht, den er zurückließ, als trenne seine Trauer ihn für immer vom Rest der Welt.

Man merkt in Sid schnell, wer die Fremden nur duldet.

Im Gastraum des Hotels am Bahnhof landet jeder, der Geld dafür bezahlen kann; der Besitzer soll Kontakte zu Schleppern pflegen. Der Barmann hat sich am Rücken eine Eisenstange in den Hosenbund geklemmt, die Männer aus der Ruine nennt er Tiere.

In einem Hotelrestaurant am Rande von Sid, wo sieben Iraner in Wanderschuhen bei Datteln und Tee seit dreieinhalb Abenden auf den Anruf vom Schlepper warten, will der Kellner zwar wissen, wer die Zimmer bezahlt, erzählt aber auch, wie er nach dem Krieg selbst als serbischer Flüchtling aus Kroatien kam und nach ein paar Gläsern Rakija nennt er alle Gäste Freunde.

Maja, 47 Jahre alt, praktischer Kurzhaarschnitt, verkauft im letzten Krämerladen vor der Grenze Energydrinks, Zigaretten und Alkohol an die Männer aus der Ruine. Sie kann sich erinnern, dass nach dem Sommer 2015 von den Hunderttausenden, die in die EU, und vor allem nach Deutschland reisten, Berge aus Plastikflaschen und zerfledderten Kekspackungen zurückblieben. Jetzt, wo die Menschen bleiben, sagt sie: Dass wir das auch noch erleben müssen.

Sie schläft nicht mehr so gut, sagt Maja. Nachts, wenn sie und die anderen Anwohner längst schlafen, würden die Hunde bellen, weil die Männer auf den Straßen laufen. Im Dorf geht die Geschichte um, einer habe eine orthodoxe Heiligenfigur enthauptet. „Sie benehmen sich, als gebe es kein Gesetz“, sagt Maja. „Das ist unser Leben.“ In dieser Nacht ist nicht ein Mensch auf der Straße zu sehen, kein Hund bellt.

Am nächsten Morgen mischen sich in die weiße Asche der Lagerfeuer in der Fabrikruine Schneeflocken, groß wie Babyhandflächen. Noch sind sie vereinzelt. Vielleicht, sagt Walid, zieht er in ein Flüchtlingslager, zum Überwintern.

Wenn ich in Schweden bin, werde ich das hier erinnern, sagt er. Wie einen Traum, eine halbwache Episode, die nicht richtig zum eigenen Leben gehört. Sein Lachen hält noch. Nur wenn er durch die Straßen von Sid läuft und nicht merkt, dass man ihn vom Auto aus sieht, liegt die Sorge wie eine zweite Haut über seinem Gesicht.

Der letzte klare Moment vor dem Abend: Ein Rudel Straßenhunde quert die Bahngleise zwischen dem serbischen Sid und dem kroatischen Tovarnik. Die Züge fahren bis zu 120 Kilometer pro Stunde. Hier wurde Madina tödlich verletzt. Die Abstände zwischen den Holzschwellen sind selbst für Erwachsenenschritte zu groß, der Schotter dazwischen so grob, dass der Fuß schlecht Halt findet. Nach Minuten der Stille ein plötzliches Pfeifen in der Ferne, dann rattert der Güterzug ohrenbetäubend an einem vorbei.

Immer wieder tauchen Silhouetten am Horizont auf, werden beim Näherkommen zu Menschen. Männergruppen, die zurückkehren von der kroatischen Grenze, in Tovarnik stehen am Bahnhof immer zwei Polizeiwagen. Manche machen sich auch aus ihren Schlafquartieren in den Büschen auf zum Abendessen in der Ruine. In ihrem Rücken liegt der Westen, in ihrem Rücken geht die Sonne unter.

An diesem Abend verteilen die spanischen Ehrenamtlichen aus zwei Töpfen Linsen, gewürzt mit Harissa. Dazu Brotstücke. Blaue Plastikplanen vor den Löchern im Backstein halten die Kälte fern, in einem der Räume, in denen kein Wasser steht, hat eine Gruppe Afghanen ein Lagerfeuer aus Stroh, Ästen und Müll entzündet. Selbst wenn man einen Meter Abstand hält, brennt die Hitze im Gesicht, dass es kaum zu ertragen ist. Die Männer rücken näher ans Feuer.

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