13. Dezember 2017 · Kommentare deaktiviert für „Die wahren Zurückgelassenen werden aufbegehren“ · Kategorien: Lesetipps · Tags:

NZZ | 13.12.2017

Was linken Intellektuellen früher die Proletarier waren, sind ihnen heute die Flüchtlinge, die in den Westen drängen. Doch sie irren. Wirklich arm dran sind jene, die nicht flüchten. Sind die Verharrenden womöglich Agenten des Fortschritts?

Slavoj Žižek

Wohl nicht zufällig taucht in der religiösen Literatur der letzten Jahrzehnte ein Thema auf, von Evangelikalen wie Tim LaHaye bis hin zu Fernsehserien wie «Leftovers»: jenes der Zurückgelassenen. Armageddon naht, und Gott nimmt die Privilegierten zu sich, um sie vor den heraufziehenden Greueln zu retten. Es scheint, als habe selbst Gott dabei auf die Stimme des Kapitals gehört: Das Thema der Zurückgelassenen sollte in der Tat in Bezug zu unserer misslichen Lage in jenem System gesetzt werden, das ich globalen Finanzkapitalismus nennen würde.

In Wirklichkeit sind nicht jene Flüchtlinge die Zurückgelassenen, die ihr Heil im wohlhabenden Westen suchen. Linke Intellektuelle neigen jedoch dazu, Flüchtlinge zu romantisieren. Sie sehen in ihnen eine Art nomadisches Proletariat, das in Europa als neues revolutionäres Subjekt zu handeln bestimmt sei.

Mit Verlaub – das ist nicht nur idealistisch, sondern auch unmarxistisch gedacht. Denn das Proletariat besteht für Marx aus ausgebeuteten Arbeitern, deren Schicksal es ist, den Wohlstand für andere zu erarbeiten. Während das überall entstandene Prekariat als neue Form des Proletariats gelten darf, befinden sich die Flüchtlinge in einer paradoxen Situation: Sie sind erst daran, zu neuen prekären Arbeitern zu werden. Insofern sind sie erst einmal «nichts», ohne Platz im sozialen Gefüge eines Landes, das sie aufgenommen hat, und von hier ist es ein langer Weg zum Proletariat im Marxschen Sinne.

Müssten also die Intellektuellen die Flüchtlinge, statt sie als nomadische Proletarier zu verherrlichen, nicht vielmehr als Avantgarde jenes dynamischen und ambitiösen Teils ihrer Bevölkerung begreifen, als jene, die willens sind, auszusteigen und weiterzukommen? Dann wären die wahren Proletarier jene, die wirklich zurückgeblieben sind, sich also gar nie auf den Weg zu einem besseren Leben gemacht haben. Jene, die dem Strom der Flüchtlinge nicht angehören und stattdessen in ihrem Land in Armut verharren. Jene, die fremd im eigenen Land sind, in das sie geboren wurden. Insofern ist es wohl nicht übertrieben zu behaupten: 80 Prozent aller Menschen sind in dieser Welt zurückgeblieben.

Logik der Nutzlosigkeit

Vor einem Jahrhundert hat es der italienische Ökonom Vilfredo Pareto unternommen, die 80/20-Regel des sozialen Lebens zu beschreiben: 80 Prozent eines Lands gehören 20 Prozent der Bevölkerung; 80 Prozent des Profits werden von 20 Prozent der Angestellten erwirtschaftet; 80 Prozent der Entscheidungen werden während 20 Prozent der Sitzungszeit getroffen. Und dasselbe dürfte auch für die wirtschaftliche Produktivität der globalen Wirtschaft gelten: 20 Prozent der Arbeitskräfte produzieren 80 Prozent der Waren und Güter weltweit (und dank der Digitalisierung wohl bald 100 Prozent), so dass 80 Prozent der Menschen eigentlich nutzlos sind, potenzielle Arbeitslose.

Wenn wir diese Logik auf die Spitze treiben, hebt sie sich irgendwann selbst auf: Ist ein System, das 80 Prozent der Menschen zur Nutzlosigkeit verdammt, nicht selbst nutzlos? Das Problem ist also nicht, dass ein neues globales Proletariat entsteht, sondern viel radikaler: Milliarden von Menschen werden ganz einfach im Produktionsprozess nicht gebraucht, alle Ausbeuterbetriebe dieser Welt können sie beim besten Willen nicht aufnehmen.

Antonio Negri gab einmal ein Interview, als er auf einer Vorortstrasse von Venezia Mestre flanierte, und die Kamera des Journalisten zeigte ihn, wie er bei einer Schlange von Menschen vorbeikommt. Es sind Arbeiter, und sie streiken vor einer Textilfabrik, die geschlossen werden soll. Negri zeigt auf sie und bemerkt herablassend: «Schau sie dir an. Sie wissen nicht, dass sie bereits tot sind.» Für Negri repräsentierten diese Arbeiter all das, was mit dem traditionellen gewerkschaftlichen Sozialismus falsch lief, der auf Arbeitsplatzsicherheit fokussierte. Dieser Sozialismus ist durch die Dynamik eines postmodernen Finanzkapitalismus und seiner Vorherrschaft der geistigen Arbeit längst obsolet geworden.

Statt auf diesen neuen Geist des Kapitalismus so zu reagieren, wie es die Sozialdemokratie tut, indem sie darin eine Gefahr erkennt, sollte man ihn nach Negri gleichsam umarmen. Dieser neue Geist, mit seiner Dynamik der intellektuellen Arbeit und seinen dezentralen sozialen Interaktionen, soll die Keime eines neuen Egalitarismus enthalten. Wenn wir dieser Logik bis ans Ende folgen, so müssen wir dem zynischen neoliberalen Slogan zustimmen, dass heute die wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften darin bestehe, die Angestellten fit für die Zukunft zu machen.

Systemkritik, bitte!

Das ist natürlich Blödsinn. Und welches wäre dann die andere Option? Angesichts dessen, dass die Dynamik des neuen Kapitalismus immer mehr Menschen überflüssig macht – können sich die lebenden Toten des globalen Kapitalismus vereinen, all die Zurückgebliebenen, jene, die sich den neuen Bedingungen nicht anzupassen vermögen? Die Wette bestünde dann darin, einen Kurzschluss zwischen diesen von der Geschichte Zurückgelassenen und dem fortschrittlichen Aspekt der Geschichte herzustellen.

Die grosse Frage ist darum: Sollen die linken Intellektuellen also das humanitäre Spiel blind mitspielen und sich allein um die Flüchtlinge kümmern? Oder sollten sie sich vielmehr darauf konzentrieren, das System zu unterminieren, das diese Flüchtlinge erst hervorbringt? Sollten sie sich zu gefühlter Solidarität mit den exotischen anderen bekennen? Oder sollten sie zeigen, wie das System, das die Zurückgebliebenen überflüssig macht, irgendwann auch die Mehrheit von uns allen überflüssig macht?

Ohne einen Wandel unserer ökonomischen Ordnung wird unsere Situation immer irrationaler. Nehmen wir die Digitalisierung und Automatisierung der Produktion. Sie wird die Nachfrage nach Arbeitskraft weiter verringern und dadurch noch mehr Prekäre und Arbeitslose hervorbringen. Viele sehen darin zu Recht eine Gefahr, doch eigentlich wäre es eine grosse Chance. Es eröffnete die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft, in der alle weniger zu arbeiten brauchten. Wie verrückt ist eigentlich eine Gesellschaft, die sich genau davor fürchtet?

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