31. Oktober 2016 · Kommentare deaktiviert für „Bedrohte Stabilität Ägyptens: Ungesüsster Tee und wütende Bürger“ · Kategorien: Ägypten

Quelle: NZZ

Die Zuckerkrise ist ein Symptom der desaströsen Wirtschaftslage, welche zusehends die Stabilität Ägyptens bedroht. Kommt es zu Unruhen, dürften sie weniger friedlich als 2011 ausfallen.

von Monika Bolliger, Beirut

«Wie viele Löffel?», ist die Standardfrage beim arabischen Tee-Ritual. Während Ausländer dankend ablehnen oder sich mit einem Löffel Zucker begnügen, entspricht der regionale Standard zwei, drei oder auch fünf Löffeln Zucker auf ein Glas Tee. In Ägypten, wo Millionen von der Hand in den Mund leben, darf auch in den ärmsten Gebieten das Teehaus nicht fehlen. Gesüsster Tee ist beinahe ein Grundnahrungsmittel. Entsprechend gross war die Wut vieler Ägypter, als der Zucker plötzlich aus den Regalen der Geschäfte verschwand.

Zucker konfisziert

Zunächst waren die Preise in die Höhe geklettert. Zucker kostet heute mehr als doppelt so viel wie vor zwei Jahren, wenn er denn erhältlich ist. Auch andere Güter sind knapp geworden, zum Beispiel Reis oder Öl. Manche klagen, dass bestimmte Medikamente nicht zu haben seien oder dass man sich kein Fleisch mehr leisten könne. Kairo ist besorgt über den Volkszorn. Ein Mann wurde verhaftet, weil er zehn Kilogramm Zucker bei sich trug. Nun hat Kairo rund 9000 Tonnen Zucker aus Fabriken und Lagerhäusern konfisziert, um sie zum subventionierten Preis an die aufgebrachten Bürger zu verkaufen.

Die Regierung hat wegen des schwachen Pfundes und fehlender Fremdwährungsreserven Probleme mit Importen. Die Wirtschaft serbelt, der Unmut wächst. Auf sozialen Netzwerken teilten Tausende das Video eines Tuk-Tuk-Fahrers, der in seiner Kritik an Präsident Sisi kein Blatt vor den Mund nahm. «Vor den Präsidentschaftswahlen hatten wir genug Zucker, Kaffee und Reis», bemerkte er. «Was ist passiert?» Wenn man fernsehe, sei Ägypten wie Wien, aber wenn man auf die Strasse gehe, sei das Land der Cousin von Somalia.

Es war ein Ausschnitt aus einer Sendung über die wirtschaftlichen Alltagssorgen der Ägypter im regierungsnahen Sender al-Hayat. Dieser entfernte die Sendung von seiner Website, nachdem an einem Tag über zwei Millionen das Video angeschaut hatten. Das Video hatte jedoch längst seinen Weg auf Youtube gefunden, weshalb der Zensurversuch umso unbeholfener wirkte. Die ägyptische Führung reagiert paranoid auf Kritik und überbietet sich regelmässig selbst mit absurden Verschwörungstheorien, wer für dieses oder jenes Übel im Land verantwortlich sei.

Sündenbock Muslimbrüder

Der bevorzugte Sündenbock sind die Muslimbrüder, welche Sisi 2013 aus der Regierung geputscht hatte. Obwohl Sisi die Muslimbrüder 2014 nach einer regelrechten Hexenjagd für «am Ende» erklärt hatte, werden sie weiterhin für Probleme beschuldigt. Ein Mitglied wurde wegen Schmuggels von Dollars ins Ausland verhaftet und für den Devisenmangel verantwortlich gemacht, dessen Ursachen eigentlich auf die ausbleibenden Touristen und fehlendes Vertrauen in die Stabilität des Landes zurückgehen. Als im Januar die Ärztegewerkschaft gegen Polizeigewalt protestierte, spekulierten regierungsnahe Medien, ob die Vize-Chefin der Gewerkschaft, die Christin Mona Mena, eine Islamistin sei. Unlängst wurden 17 Muslimbrüder verhaftet mit der Begründung, sie würden «Pessimismus verbreiten».

Sisis Aufgabe war nie leicht. Er hat bei seiner Amtsübernahme eine von jahrzehntelanger Misswirtschaft, Korruption und politischen Unruhen lädierte Wirtschaft geerbt. Aber die inkompetente Politik seiner Regierung hat wesentlich zur jetzigen Krise beigetragen. Sisi setzte auf unnötige Megaprojekte statt auf Basis-Infrastruktur, Bildung oder Korruptionsbekämpfung. Die Erweiterung des Suezkanals nährte zwar kurzfristig den Nationalstolz der Ägypter, generierte aber wie befürchtet nicht die von der Regierung vollmundig versprochenen Einnahmen. Geschäftsleute klagen über Korruption, Bürokratie und unberechenbare wie kurzsichtige Massnahmen der Regierung.

Sisis Geldgeber sind zurückhaltender geworden. Grosszügige Geldspritzen vom Golf versickerten rasch und sind nicht mehr so selbstverständlich wie am Anfang des Putsches. Saudiarabien hat nicht mehr unendlich Petrodollars zum Verprassen und ist überdies verärgert wegen aussenpolitischer Meinungsverschiedenheiten mit Kairo. Washington hat über 100 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern an Länder wie Tunesien umgeleitet. Die amerikanische Militärhilfe im Umfang von 1,3 Milliarden Dollar für Sisi bleibt davon unberührt, aber der Schritt ist ein Zeichen wachsender Frustration in Washington über Kairo.

Aufruf zu Protesten

Sisi kann zumindest weiterhin hoffen, dass die Angst vor einem Kollaps Ägyptens zu gross ist. Derzeit wartet er auf eine Finanzspritze des Internationalen Währungsfonds (IMF) im Umfang von zwölf Milliarden Dollar, die noch endgültig genehmigt werden muss. Der IMF verlangt aber Reformen wie die weitere Kürzung von Subventionen und die Abwertung des Pfundes, zumal der Dollarpreis auf dem Schwarzmarkt inzwischen fast das Doppelte des offiziellen Kurses beträgt. Das ist ein schwieriges Unterfangen angesichts der bereits angespannten Lage.

Unbekannte haben zu Demonstrationen am 11. November aufgerufen. Kaum jemand erwartet eine Wiederholung des Szenarios von 2011, als die Ägypter geeint und friedlich für Brot, Freiheit und Würde demonstrierten. Diesmal ist die Repression stärker, die Gesellschaft gespaltener, und der Optimismus von damals ist verflogen. Unruhen, so die Befürchtung, dürften daher fragmentierter und gewaltsamer ausfallen.

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