27. Oktober 2016 · Kommentare deaktiviert für „Der lange Weg der Flüchtlinge nach Libyen“ · Kategorien: Libyen

Quelle: Süddeutsche Zeitung

Die Überfahrt nach Europa ist für Hunderttausende Afrikaner die letzte Etappe einer Flucht, die schon zuvor lebensgefährlich ist. Viele schaffen es nicht einmal bis ans Mittelmeer.

Von Moritz Baumstieger

Wenn aus Libyen kommende Flüchtlinge auf Europas Radar auftauchen – im besten Fall auf dem eines im Mittelmeer kreuzenden Rettungsschiffes, im schlechtesten Fall auf dem der Nachrichtenredaktionen, wenn wieder ein Boot gesunken ist -, haben die meisten jahrelange Strapazen hinter sich. Die Überfahrt nach Italien ist sicherlich einer der gefährlichsten, aber nur der letzte Abschnitt ihrer langen Reise. Der Großteil der Menschen, die auf der zentralen Mittelmeerroute nach Italien gelangen wollen, stammt aus dem subsaharischen Afrika – aus Staaten wie dem terrorgeplagten Nigeria, den Diktaturen Eritrea und Gambia, dem Bürgerkriegsland Somalia. Sie brechen auf, weil sie von einem besseren Leben in Europa träumen.

Der Weg nach Libyen führt über Tschad und Niger. Allein Niger südwestllich von Libyen durchquerten nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration seit Februar fast 300 000 Menschen. Ihre Route führt von der Hauptstadt Niamey in die Wüstenstadt Agadez, wo die Migranten in behelfsmäßigen Unterkünften ausharren, bis es irgendwann weiter nach Norden geht: Zunächst mit Bussen in Richtung der Oasenstadt Séguédine, dann weiter mit Motorrädern oder überladenen Pick-up-Trucks und Kleinbussen, streckenweise auch zu Fuß. Einige überleben die Hitze der Sahara nicht, skrupellose Schlepper lassen sie verdursten.

Genaue Zahlen, wie viele Menschen schon auf dem Weg nach Libyen sterben, gibt es nicht. Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens ebenso viele Menschen in der Wüste umkommen wie im Mittelmeer. Der Weg sei lang, aber man könne ihn kaum verfehlen, sagte einmal ein zynischer Milizionär in Libyen – man müsse die Toten am Wegesrand einfach als Streckenmarkierung verstehen.

Libyen konnte zum Startpunkt für die Überfahrt nach Europa werden, weil die Strukturen des Staates nach dem Sturz von Machthaber Muammar al-Gaddafi 2011 komplett zerstört wurden. Der exzentrische Diktator ließ sich von der Europäischen Union zum einen mit viel Geld aufwiegen, dass er Migranten an der 1700 Kilometer langen Küste seines Landes zurückhielt – zum anderen wollten viele, die in Libyen ankamen, gar nicht weiter nach Norden. In dem ölreichen Land gab es Jobs für legale wie illegale Gastarbeiter. Letztere genossen zwar keinerlei rechtliche Sicherheit, doch der Alltag in Libyen schien sicherer als die risikoreiche Überfahrt nach Europa.

Viele sehen in den Flüchtlingen einfache Opfer

Heute gibt es in Libyen je nach Zählweise zwei bis drei Regierungen. Die Revolutionäre, die gegen Gaddafi aufstanden, sind heute in mehr als 1000 verschiedene Milizen zersplittert. Die meisten weigern sich, ihre Waffen abzugeben. Manche der Kämpfer beziehen Sold, andere müssen selbst sehen, wo sie bleiben. Sie betätigen sich entweder als Schleuser oder sehen in den Flüchtlingen, die aus den Wüstengebieten Richtung Küste ziehen, einfache Opfer. Viele werden ausgeraubt, manche Frauen vergewaltigt. Andere werden zu Sklavenarbeit gezwungen oder von Milizen in Gefängnissen und Lagern festgehalten, bis sie ein Bestechungsgeld zahlen. Wenn sie Glück haben, geben sich die Milizionäre mit rund 1000 Dinar zufrieden, etwa 663 Euro, das soll derzeit der Preis sein, um sich wieder freizukaufen. Andere werden in den Lagern gefoltert, während die Familie in der Heimat live am Telefon zuhören muss. So lässt sich der Preis des Lösegeldes hochtreiben, das die Angehörigen schicken müssen.

Ein Platz auf einem völlig überfüllten Boot nach Europa kostet derzeit zwischen 1000 und 2000 libyschen Dinar. Ein Tageslohn für einen Illegalen in Misrata beträgt im besten Fall etwa zehn Dinar, sechs Euro – wenn der Arbeitgeber denn zahlt. Um sich das Geld für die Überfahrt zusammenzusparen, hängen die Migranten oft monatelang in den Küstenstädten fest. Martin Kobler, der UN-Sondergesandte für Libyen, schätzt, dass derzeit 235 000 Menschen auf eine Überfahrt warten.

Wenn sie es schaffen, die notwendige Summe aufzubringen, werden sie von den Schleusern auf überfüllte Boote gepfercht. Manchmal sind es schrottreife Fischerkähne, oft wackelige Schlauchboote. Dass sie ihre Passagiere bis nach Italien tragen, ist von den Schleusern nicht vorgesehen. Sie hoffen eher, dass die Boote es bis in die zwölf Meilen vor der Küste beginnenden internationalen Gewässer schaffen und dort von den Schiffen der EU-Mission „Sophia“ oder Hilfsorganisationen aufgegriffen werden – wie schon mehr als 150 000 vor ihnen in diesem Jahr. Doch nicht alle werden gerettet. Allein seit Jahresbeginn starben nach UN-Angaben mindestens 3740 Flüchtlinge. Statistisch gesehen bezahlt auf der zentralen Mittelmeerroute einer von 47 Menschen den Fluchtversuch mit seinem Leben.

Eine Küstenwache, die diese lebensgefährlichen Überfahrten verhindern könnte, gibt es in Libyen trotz mehrerer Ausbildungsmissionen der EU nicht: In der Hauptstadt Tripolis liegen drei Boote meist zur Reparatur im Hafen, ebenso drei in Misrata und zwei weitere in der Stadt Suwara. Wenn sie doch auslaufen, sind die Mannschaften schlecht geschult und verstehen ihren Auftrag teils eher als Kampf gegen die Flüchtenden als gegen die Schleuser: Im August beschoss die Küstenwache ein Rettungsschiff der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, Anfang Oktober griff die libysche Marine ein Flüchtlingsboot an und brachte es zum Kentern, vier Menschen ertranken. Jetzt soll der nächste Versuch zum Aufbau einer Küstenwache unternommen werden – 1000 Soldaten will die EU in den kommenden Monaten ausbilden in dem Land, das weder Regierung noch Frieden kennt.

Kommentare geschlossen.