12. Oktober 2016 · Kommentare deaktiviert für „Äthiopien : Der Diktator als Partner gegen Flüchtlinge“ · Kategorien: Afrika, Deutschland, Europa

Quelle: Zeit Online

Die Kanzlerin reist nach Äthiopien, weil sie Partner sucht gegen die Migrationsbewegung nach Europa. Mit Kritik am repressiven Regime wird sie deshalb vorsichtig sein.

Von Benjamin Breitegger

Am Sonntag verhängte Äthiopiens Regierung den Ausnahmezustand: Die Volksgruppe der Oromo protestiert seit Monaten gegen ihre Unterdrückung. Militärangehörige ermordeten mehr als 400 Menschen im vergangenen Jahr, schätzt Human Rights Watch; mehr als 50 Tote kamen zuletzt in Debre Zeyit hinzu, einem Ort südlich der Hauptstadt Addis Abeba.

Die Regierung geht brutal gegen Demonstranten vor, Polizisten verhaften willkürlich Menschen. Es ist der größte Konflikt im Land seit einem Jahrzehnt und der Höhepunkt eines immer repressiveren Vorgehens gegen Dissens. „Die Lage wurde immer erstickender“, sagt der Äthiopien-Experte und Ethnologe Thomas Zitelmann. Die Proteste begannen, als die Regierung entschied, für Entwicklungsprojekte Land zu beschlagnahmen, das traditionell den Oromo zusteht; auch die Volksgruppe der Amhara demonstriert für mehr Rechte.

An diesem Dienstag besucht Angela Merkel Addis Abeba, Hauptstadt Äthiopiens und Sitz der Afrikanischen Union. Sie wird ein von Deutschland finanziertes Gebäude für Frieden und Sicherheit einweihen und will sich, so heißt es aus dem Kanzleramt, über die innenpolitische Lage informieren: Merkel wird neben Premier Hailemariam Desalegn auch Politiker der Oppositionsparteien treffen. US-Präsident Barack Obama hatte das bei einem Besuch im Vorjahr abgelehnt.

Demokratie systematisch vernichtet

Lokale Zeitungen kritisieren, dass sie keine Rede vor dem Parlament hält – wohl eine bewusste Entscheidung: Mehr als 90 Prozent der Abgeordneten gehören der Regierungspartei an, die von der Minderheit der Tigrinya dominiert ist. Die EU hatte zur vergangenen Wahl nicht einmal Beobachter geschickt. Es hieß: Keiner der Vorschläge nach der Wahl von 2010, als die Regierungspartei alle bis auf einen Sitz gewann, wurden umgesetzt.

Felix Horne, Äthiopien-Experte von Human Rights Watch, sieht eine „dramatische Verschlechterung“ der Menschenrechtssituation in den vergangenen Jahren. UN-Sonderberichterstatter seien nicht ins Land gelassen worden. Ein Gesetz verbietet ausländischen Organisationen im Land politische Arbeit, wobei lokale NGOs als „ausländisch“ definiert werden, sobald ihr Budget zu mehr als zehn Prozent aus nicht-äthiopischen Quellen stammt. Die grüne Heinrich-Böll-Stiftung verließ deshalb Ende 2012 das Land. Mit dem Ethiopian Human Rights Council gibt es nur mehr eine Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Äthiopien. Mitarbeiter möchten keine Interviews geben, um ungestört ihre Arbeit fortsetzen zu können.

„Jede Demokratieinitiative wurde systematisch vernichtet“, sagt Tsedale Lemma, Chefredakteurin des englischsprachigen Addis Standard, eine der wenigen kritischen Publikationen im Land. Öffentliche Debatten könnten nicht mehr stattfinden. Eine zunehmende Militarisierung des Staates sei die eine Seite, wütende Bürger die andere: „Ein Dazwischen gibt es nicht mehr“, sagt Lemma.

Zensur und Überwachung von Journalisten

In ihrer Arbeit als Journalistin testen Lemma und ihre Kollegen täglich Grenzen aus. Sie weiß, dass ihr Telefon überwacht wird. Auf der Straße folgen ihr Leute, sie setzen sich neben ihr ins Café, versteckten sich nicht mal, erzählt sie. Sie soll wissen: Wir beobachten dich genau. Jeden Tag erhält Lemma E-Mails mit Drohbotschaften. „Wir wissen, wo deine Kinder zur Schule gehen“, steht darin zum Beispiel. Selbst Anzeigenkunden des monatlich erscheinenden Addis Standard bekämen Anrufe, das Magazin nehme immer weniger Geld ein.

Trotzdem gelte es als das Vorzeigeprojekt der Regierung, sagt Lemma, das sei der hässliche Teil ihrer Arbeit. Minister präsentierten ihr Magazin internationalen Diplomaten und sagten: „Schaut her, wie hoch wir die Pressefreiheit hier halten.“ Unbekannte schüchtern die 23 Redakteure für ihre kritischen Kommentare trotzdem täglich ein.

Das Committee to Protect Journalists (CPJ) listet zehn inhaftierte Journalisten für Äthiopien. An die 60 Journalisten sind aus dem Land geflohen, nur in Syrien ist die Zahl höher. Erst vor zwei Jahren verbot die äthiopische Regierung fünf unabhängige Magazine und eine Zeitung. Und die einzige Druckmaschine mit der Größe, eine hohe Auflage einer Tageszeitung zu drucken, gehört laut Human Rights Watch dem Staat. Auf der CPJ-Liste der am stärksten zensierten Länder liegt Äthiopien auf dem vierten Platz weltweit.

Gegner werden als Terroristen angeklagt

Seit 2009 setzt die Regierung ein Antiterrorgesetz systematisch gegen Journalisten ein: Sie werden als Verbündete angeklagt, wenn sie über Gruppen berichten, die der Staat als terroristisch einstuft – wie Blogger des Kollektivs Zone 9.

Die Gruppe bildete sich aus neun Universitätsabsolventen, die anfangs online über soziale Themen berichteten. Mit der Zeit politisierten sie sich zunehmend und forderten Rechte ein, die ihnen laut Verfassung zustehen. Sie nahmen an Veranstaltungen von internationalen Menschenrechtsorganisation teil, trainierten mit einer internationalen NGO, sicher im Internet zu kommunizieren, und besuchten den inhaftierten Journalisten Eskinder Nega. Nega sitzt das vierte Jahr einer 18-jährigen Gefängnisstrafe ab. Sein Verbrechen: Er hatte kritisiert, dass die Regierung das Antiterrorgesetz auch gegen Oppositionelle einsetzt.

Nach der Anklage gegen Zone 9 floh ein Mitglied aus dem Land. Zwei weitere Blogger, darunter Soleyana S. Gebremichael, befanden sich im Ausland. Soleyana suchte in den Vereinigten Staaten um Asyl an. Die restlichen Mitglieder verbrachten mehr als ein Jahr in Sicherheitsverwahrung, sie wurden kurz vor und nach dem Äthiopien-Besuch Barack Obamas im vergangenen Jahr freigelassen. Ein Journalist des Addis Standard, der mit ihnen in Haft saß, berichtet von viermal vier Meter großen Zellen, in denen mehr als zehn politische Gefangene untergebracht waren. „Wir nannten es Sibirien, weil es so kalt war“, sagt er. Nur zehn Minuten pro Tag durften sie ins Freie. Am vergangenen Dienstag verhafteten Behörden kurzzeitig einen weiteren Blogger. Er muss sich einem Gerichtsverfahren stellen, da er in einem Gespräch mit Freunden die Regierung für die Toten von Debre Zeyit verantwortlich gemacht hatte.

Die Regierung reagiert auf die neuen Proteste im Land nicht nur mit willkürlichen Verhaftungen. Sie versucht auch zu verhindern, dass sich Demonstranten verabreden und blockiert zeitweise mobiles Internet. Der einzige Internetprovider Äthiopiens, Ethio telecom, gehört dem Staat. Zugriff auf Telefonverbindungen, die Zensur von Websites Oppositioneller oder die Sperre von Tor, einer Software zur Verschlüsselung und Anonymisierung von Internetverbindungen: Staatliche Nachrichtendienste setzen das um. Sie spionieren auch Computer politischer Gegner aus, mitunter mit Software deutscher Unternehmen.

Äthiopiens Narrativ des Wirtschaftsaufschwungs gestört

Äthiopien ist umgeben von zerrütteten Staaten: In Eritrea herrscht Diktator Afewerki, Tausende fliehen jährlich vor einem zeitlich unbegrenzten Militärdienst. In Somalia herrscht seit zwei Jahrzehnten Bürgerkrieg, und im Südsudan kämpfen nach fünf Jahren Unabhängigkeit wieder Milizen. Aus beiden Ländern nahm Äthiopien Hunderttausende Geflüchtete auf – ein Grund für Merkels Besuch. Sie will auf ihrer dreitägigen Afrika-Reise Kooperationen abschließen, um Migration nach Europa zu verhindern. Zudem kämpft Äthiopien gegen islamistischen Terrorismus in Somalia. Deutschland sei daher „sehr vorsichtig mit Kritik an Menschenrechtsverletzungen“, sagt Ethnologe Zitelmann.

Äthiopien gilt als stabiler Partner der westlichen Staatengemeinschaft – trotz zahlreicher dokumentierter Menschenrechtsverletzungen und einer Zensur, wie sie sonst nur in Nordkorea und Saudi-Arabien besteht. Die Europäische Kommission unterzeichnete im Juni mit Äthiopien eine „Strategische Partnerschaft“; für 2014-2020 hat die EU dem Land 745 Millionen Euro an Entwicklungshilfe versprochen.

Äthiopien – eines der ärmsten der Welt – ist in den vergangenen Jahren wirtschaftlich stark gewachsen. Die Regierung setzte diese Entwicklung autoritär durch. Tote und Menschen, die vertrieben werden – das passt nicht ins positive Narrativ der am schnellsten wachsenden Wirtschaftsmacht Afrikas. Die neuen Proteste zeigen die Gegenseite. Am Mittwoch wird sich der Menschenrechtsausschuss des Europaparlaments mit der brutalen Reaktion der äthiopischen Regierung auf die jüngsten Konflikte beschäftigen.

Kommentare geschlossen.