25. September 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingspolitik in der EU: Matteo Renzi schäumt“ · Kategorien: Europa, Italien

Quelle: NZZ

Die meisten Asylbewerber erreichen Europa wieder über Italien. Rom fordert eine gemeinsame Strategie gegenüber den Herkunftsländern – und ist in der EU so isoliert wie nie.

von Andrea Spalinger, Rom

In Rom ärgert man sich seit Jahren über die fehlende Solidarität der EU-Partner in der Migrationsfrage. Doch so offen wie Matteo Renzi nach dem Gipfeltreffen in Bratislava hat noch kein Regierungschef seinem Frust darüber Luft gemacht. Der Gipfel sei ein Misserfolg gewesen, schimpfte der sonst meist vor Zweckoptimismus strotzende 41-Jährige. Mehr als eine nette Fahrt auf der Donau habe man nicht gemacht. Seit Monaten warte Italien auf Taten und bekomme stattdessen nur leere Worte zu hören.

Seit die Balkan-Route dicht ist, kommen fast 90 Prozent der Flüchtlinge wieder über Italien nach Europa. Täglich birgt die Küstenwache auf dem Mittelmeer Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen. Zudem nimmt Rom weiterhin grosszügig alle Bootsflüchtlinge auf, die Rettungsschiffe an Land bringen.

Massiv mehr Asylanträge

Laut der Statistik des Uno-Flüchtlingshilfswerks sind 2016 bereits über 130 000 Bootsflüchtlinge in Italien angekommen. Sie werden mittlerweile relativ konsequent registriert. Doch die anderen EU-Staaten übernehmen kaum Asylbewerber, wie sie eigentlich versprochen hatten. Da Frankreich, Österreich und die Schweiz die Grenzen weitgehend dicht gemacht haben, kommen auch nicht mehr viele Migranten illegal Richtung Norden weiter.

Die Zahl der Asylanträge in Italien steigt deshalb rasant. Von April bis Juni waren es laut Eurostat 27 000 und damit 21 Prozent mehr als im ersten Quartal. 2015 hatten noch 83 000 Personen Asyl beantragt, im laufenden Jahr dürften es deutlich über 100 000 sein. Italien liegt damit hinter Deutschland in der EU mittlerweile auf dem zweiten Platz.

Renzi ist nicht nur frustriert darüber, dass Italien mit den Ankömmlingen alleingelassen wird. Es ärgert ihn auch, dass in Bratislava fast nur über das Türkei-Abkommen diskutiert wurde und die gemeinsame Afrika-Politik kaum Erwähnung fand – rund drei Viertel der Bootsflüchtlinge, die in Italien ankommen, stammen aus Schwarzafrika. Rom hatte bereits im April ein Strategiepapier vorgelegt, das vorsieht, afrikanischen Staaten finanzielle Unterstützung, Investitionen und Hilfe im Sicherheitsbereich zuzusagen, wenn diese im Gegenzug den Grenzschutz verbessern, das Schlepperwesen bekämpfen und bei der Rückführung abgewiesener Asylbewerber kooperieren.

In einem Interview mit dem «Corriere della Sera» sagte Renzi trotzig, wenn die EU nicht handle, werde man dies eben alleine tun. De facto ist er aber machtlos. Insbesondere was Rückführungsabkommen angeht, ist Rom auf europäische Unterstützung angewiesen. Während die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident an einer gemeinsamen Pressekonferenz nach dem Gipfel den «Geist von Bratislava» beschworen, erklärte Renzi bei seinem Solo-Auftritt, man solle bloss nicht so tun, als ob Einigkeit geherrscht hätte. Erst Ende August hatte er Merkel und Hollande noch zu einem symbolträchtigen Dreiertreffen auf Ventotene geladen, um über neue europäische Visionen zu diskutieren. Doch Renzis Hoffnung, Italien könnte dauerhaft eine Führungsrolle beanspruchen, erfüllte sich nicht. Merkel scheint zwar Verständnis für seine Position in der Flüchtlingsfrage zu haben. Sie ist innenpolitisch aber selbst viel zu sehr unter Druck, als dass sie ihm entgegenkommen könnte. So wurde aus dem Führungs-Trike schnell wieder ein Tandem.

Der Rückschlag auf der aussenpolitischen Bühne ist für Renzi umso bitterer, als er innenpolitisch angeschlagen ist. Er hat in den letzten zweieinhalb Jahren einige Reformen durchgeboxt, doch das Wachstum will einfach nicht anziehen. Das ist Wasser auf die Mühlen der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung, die seinen Partito Democratico laut Umfragen derzeit überflügelt. Im November findet ein Verfassungsreferendum statt, an das Renzi seine politische Zukunft geknüpft hat. Der Ausgang ist höchst ungewiss.

Immer noch «mehr Europa»

Die Italiener gehörten einst zu den überzeugtesten Europäern. Obwohl EU-kritische Parteien Zulauf haben, sind laut einer in dieser Woche publizierten Umfrage 77 Prozent der Befragten noch der Meinung, dass die Union den Bürgern Vorteile bringe. 83 Prozent finden gar, eine Vertiefung sei nötig.

Wenn Italiener Brüssel kritisieren, tun sie dies oft nicht, weil sie weniger, sondern weil sie mehr Europa wollen. Die EU könne sich nicht nur für die Einhaltung der Austerität starkmachen, sondern müsse sich auch im Sozialbereich mehr engagieren, heisst es. In der Existenzkrise, in der die EU steckt, scheint dies allerdings wenig realistisch.

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