18. September 2016 · Kommentare deaktiviert für „Die Balkanroute ist dicht. Europa noch lange nicht“ · Kategorien: Balkanroute, Deutschland, Mittelmeerroute, Schweiz

Quelle: Welt.de

Von Manuel Bewarder, Marcel Pauly

Auch wenn die Balkanroute verschlossen ist, drängen Migranten nach Europa.

Viele Flüchtlinge kommen aus Afrika nach Italien. Es gibt bislang kein Konzept, um sie von der Überfahrt abzuhalten.

Die Sicherheitsbehörden beobachten jetzt die Situation in der Schweiz ganz genau.

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Warum das wichtig ist:

Die Flüchtlingskrise 2015 hat dramatische Folgen für Deutschland gehabt. Die Ursachen dafür bestehen aber weiterhin.

Auch wenn die Balkanroute so gut wie geschlossen ist, warten Millionen Migranten vor den Toren Europas darauf, dass sie doch irgendwie hereinkommen. Sie haben ihre Heimatländer in Asien oder Afrika verlassen, weil sie ein besseres Leben suchen. Sicherer – oder manchmal schlichtweg lebenswerter.

Nachdem das staatlich organisierte Durchreichen von der Türkei bis nach Deutschland gestoppt wurde, nehmen sie wieder größere Risiken in Kauf. Sie verstecken sich in Lastwagen, steigen auf kaputte Boote mit viel zu wenig Treibstoff oder klettern über militärisch gesicherte Grenzzäune.

Eine komplette Abschottung? Sie ist unmöglich. Und solange sich Europa nicht zur Aufnahme von größeren Flüchtlingskontingenten durchringt oder die Menschen von der Fahrt übers Mittelmeer abhält, wird der Druck auf die Außengrenze nur noch größer werden. Die Menschen kommen. Auch nach Deutschland, zuletzt häufiger über die Schweiz.

Auch im Jahr nach der großen europäischen Krise ist die weltweite Flüchtlingslage mit ihren Ursachen und Konsequenzen also längst nicht gelöst. An diesem Montag werden sich die Vereinten Nationen in New York deshalb den Kopf darüber zerbrechen, wie man verhindern kann, dass bald sogar noch deutlich mehr als die bisherigen 65 Millionen Menschen auf der Flucht sind.

Die Zahlen und Erkenntnisse verschiedener Behörden, die die „Welt“ für diesen Artikel zusammengetragen hat, zeigen, wie die Menschen nach Europa kommen. Experten sprechen von einem „gigantischen Herkunftsraum“. Und eine Prognose, wie es weitergeht, die mag keiner abgeben.

Comeback der zentralen Mittelmeerroute

Schon kurz nach der Schließung der Balkanroute im Frühjahr rückte die zentrale Mittelmeerroute wieder in den Fokus. Auch wenn die Gesamtzahl dieses Jahr aufgrund der vielen Migranten im Januar und Februar für Griechenland noch größer ist, holt Italien auf. Dort kommen mittlerweile nämlich wieder deutlich mehr Flüchtlinge an als in Griechenland.

Und während die Europäische Union mit der Türkei einen Partner gefunden hat, um die Weiterreise der Migranten zu stoppen, herrschen in Libyen Krieg und Terror – das pure Chaos also. Dort funkt den Schleusern niemand dazwischen.

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Hunderttausende Flüchtlinge warten laut Schätzungen von Sicherheitsbehörden darauf, dass sie genug Geld zusammengekratzt haben, um die oftmals tödliche Überfahrt zu wagen. Schlepper schicken sie dann oftmals mit Schlauchbooten aufs offene Meer. Das Benzin reicht meist nur für ein paar Meilen, dann sollen die Migranten einen Notruf nach Italien senden. Der Aufwand für die Schleuser ist minimal – die Einnahmen aber sind in den vergangenen Jahren immer größer geworden und betragen weltweit rund sechs Milliarden Euro.

Insgesamt ist die Zahl der Flüchtlinge auf dieser Route stabil. Nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex erreichten in den ersten acht Monaten dieses Jahres 116.000 Flüchtlinge Italien, nur rund 500 mehr als im vergangenen Jahr.

Verändert hat sich laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) hingegen die Herkunft der Migranten: Vor allem kommen heute Nigerianer, Eritreer und Sudaner. In dem einen Land wütet die Terrormiliz Boko Haram. Eritrea wiederum ist eine brutale Diktatur mit außergerichtlichen Hinrichtungen und illegalen Verhaftungen, in der Gegner des Regimes schnell und spurlos verschwinden.

Asylzentren in Nordafrika?

Der Sudan schließlich ist nicht nur ein zentrales Transitland, in dem sich mehrere Fluchtrouten nach Libyen treffen. Die Jahre des Bürgerkriegs haben dort zudem zu außergewöhnlich vielen Binnenflüchtlingen geführt. All das hat die Folge, dass die EU mittlerweile auf eine engere Zusammenarbeit mit den afrikanischen Ländern setzt. Finanzspritzen oder eine enge Entwicklungszusammenarbeit sollen dazu führen, dass sich erst gar nicht so viele auf den Weg machen. Aber ob das klappt? Abwarten.

Syrer, die bis Anfang 2015 noch vielfach den Weg übers zentrale Mittelmeer wählten, registrieren die Behörden heute übrigens kaum noch in Italien. Insgesamt starten mehr Migranten ihre Fahrt übers Mittelmeer mittlerweile in Ägypten. In Italien sind in diesem Jahr bereits mehr Flüchtlinge aus dem nordafrikanischen Land angekommen als im gesamten Vorjahr.

Rund zehn Tage dauert diese Überfahrt – und sie ist laut IOM deutlich gefährlicher, weil Flüchtlinge dabei länger auf offener See und im Notfall nur schwer zu retten sind. Weitaus weniger Personen kommen weiterhin nach Spanien. Ein paar Migranten überquerten das Mittelmeer zuletzt von Algerien nach Sardinien.

Europa versucht mittlerweile, verstärkt zu verhindern, dass sich die Migranten überhaupt ins Boot setzen. Darüber spricht die Bundesregierung auch mit Kairo. Und in Libyen will man demnächst bei der Ausbildung der Küstenwache helfen. Das ist ein Anfang. Ein Ziel ist, etwas Ähnliches wie das Türkei-Modell auch aufs südliche Mittelmeer zu übertragen. Dann könnten Migranten, die aus Libyen kommen, direkt in Asylzentren in nordafrikanischen Staaten zurückgeschickt werden. Manchen würde das wahrscheinlich abschrecken.

Die Balkanroute ist tot. Lang lebe die Balkanroute

Das Abriegeln der Balkanroute in Mazedonien, ein Vorgang, der im Februar seinen Anfang nahm, führte zu einem starken Rückgang der Ankunftszahlen auf den griechischen Inseln. Das anschließend gestartete Abkommen zwischen der EU und der Türkei sorgte schließlich dafür, dass sich kaum noch jemand auf den Weg über die Ägäis machte.

Doch natürlich ist diese Route nach Europa damit nicht komplett dicht – und viele Syrer befinden sich weiterhin in einer nahezu aussichtslosen Lage. An der syrisch-jordanischen Grenze leben laut Amnesty International etwa 75.000 Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen. Es mangele an Nahrung, Wasser und Medizin, viele Menschen seien gestorben.

Migranten und Schleuser haben längst neue Wege nach Europa gefunden. Übers Schwarze Meer und auch über Albanien gelangen zwar viel weniger Migranten als zunächst erwartet. Doch über die Landgrenze zwischen der Türkei und Bulgarien findet so mancher noch seinen Weg Richtung Mitteleuropa. Immer wieder jedoch stehen die Migranten vor abgesperrten Grenzen. In den Balkanländern sind mittlerweile wieder viele Migranten gestrandet. Europa hilft gerade Bulgarien, die Landgrenze zur Türkei stärker zu sichern.

Viele Wege führen nach Deutschland

Viele Migranten geben bei Befragungen an den EU-Außengrenzen an, dass sie am liebsten nach Deutschland weiterreisen würden. So etwas ist eigentlich aber nicht vorgesehen. Denn nach dem Dublin-Prinzip ist jener EU-Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, in dem ein Flüchtling ankommt. In Europa wären das vor allem Griechenland und Italien.

In den vergangenen Jahren reichten beide Länder viele Migranten einfach weiter. Ihr Argument: Die Menschen wollen sowieso nicht bei ihnen bleiben, sondern weiter nach Deutschland. „Das bisherige Konzept, dass die reicheren EU-Binnenländer ihre grenzpolizeiliche Verantwortung an die ärmeren Staaten an der EU-Peripherie weiterreichen, ist nicht aufgegangen“, sagt Jörg Radek, Vize-Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP).

Viele wollen zwar noch immer weiter – schaffen es aber nicht. In Griechenland sind mehr als 60.000 Flüchtlinge gestrandet, weil sie auf der Balkanroute nicht weiterkommen. Zähneknirschend startet Athen nun mit der Registrierung – ganz ähnlich übrigens wie Italien. Dort wurden mehrere Hotspots aufgebaut, in denen Migranten untergebracht und betreut werden.

Rom reagiert damit unter anderem auf die Signale Österreichs. Die Wiener Regierung ist darauf vorbereitet, in wenigen Stunden den Brenner zu schließen – falls die Zuwandererzahl aus dem Süden weiter steigt oder bald die ausgegebene Obergrenze erreicht werden sollte. So weit will es Italien aber erst gar nicht kommen lassen.

Während in den vergangenen Jahren vor allem Bayern im Blickpunkt der Flüchtlingsströme stand – hier treffen sich Mittelmeer- und Balkanroute –, schauen die deutschen Sicherheitsbehörden mittlerweile auch wieder auf andere Grenzen aufmerksamer.

Ab Mitte 2015 etwa stieg die Zahl der Migranten aus der Russischen Föderation deutlich. Vor allem waren das Menschen aus Tschetschenien. Sie haben hierzulande zwar kaum Aussicht auf Asyl – doch offenbar sind die Lebensbedingungen derart schlecht und der Druck auf Regimegegner in dem Kaukasusstaat so hoch, dass sich zuletzt viele auf den Weg nach Europa gemacht haben.

Zuletzt berichteten verschiedene Medien davon, dass mittlerweile doppelt so viele Tschetschenen aus Weißrussland nach Polen einreisen wollen. Sicherheitskreise hierzulande bestätigen, dass dort viele versuchten, in den Nachbarstaat einzureisen. Wenn sie tatsächlich über die Grenze kommen, ist eigentlich Warschau für die Asylverfahren zuständig.

Aufmerksamer Blick zur Schweizer Grenze

Doch viele Personen entziehen sich den Behörden und versuchen, nach Deutschland zu gelangen. Nach Angaben des Brandenburger Innenministeriums wurden in den ersten acht Monaten des Jahres in dem Bundesland fast 2000 Asylsuchende aus Russland registriert – darunter vor allem Tschetschenen. Das sind deutlich mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der von der Bundespolizei festgestellten illegal Eingereisten an der Grenze zu Polen ist hingegen recht stabil.

Während die Situation an der Ostgrenze die Behörden noch nicht beunruhigt, blickt man weiter aufmerksam auf die Situation in Bayern – und aktuell auch auf die Grenze zur Schweiz in Baden-Württemberg. „Es tritt ein Verdrängungseffekt in andere Grenzabschnitte zur Schweiz, Frankreich und Belgien ein“, erklärt GdP-Vize Radek, der beklagt, dass die Bundespolizei aufgrund des Einsatzes in Bayern und des fehlenden Personals andere Grenzabschnitte vernachlässigen muss.

Nach Angaben des Bundesinnenministeriums zählten die Beamten dort bis zu diesem Sommer eine recht konstante Zahl von Einreisen. Von Januar bis Juli wurden rund 3400 unerlaubte Einreisen festgestellt. Seit Juni ist laut einem Sprecher aber ein „deutlicher Anstieg feststellbar“, verlässliche Zahlen würden aber noch nicht vorliegen. Es sind vor allem Afrikaner, die von Italien über die Schweiz einreisen. Dort werden sie zunächst registriert – verschwinden dann aber. Und tauchen schließlich oftmals wieder in Deutschland auf.

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