08. September 2016 · Kommentare deaktiviert für „Noch härter gegen Flüchtlinge? Ungarn schafft das“ · Kategorien: Ungarn · Tags:

Quelle: Spiegel Online

Poster mit Hassparolen überall, Tausende „Grenzjäger“ auf Patrouille – die Orbán-Kampagne gegen Migranten erreicht neue Tiefpunkte. Der Grund: Bald stimmen die Ungarn über den Flüchtlingskurs ab.

Ungarn ist förmlich zugekleistert mit Plakaten, an manchen Stellen hängen fünf, sechs nebeneinander. „Hätten Sie’s gewusst?“, steht da, es folgen jeweils verschiedene Antworten: „Es waren Einwanderer, die die Anschläge von Paris begangen haben.“ Oder: „Letztes Jahr kamen 1,5 Millionen illegale Einwanderer nach Europa.“

Tamás Léderer sieht die Plakate jeden Tag, wenn er auf die Straße geht. Und er ist jeden Tag wieder schockiert. „Man muss nicht unbedingt damit einverstanden sein, dass Flüchtlinge in so großer Zahl nach Europa kommen“, sagt er. „Aber dass unsere Regierung so ein niedriges und menschenfeindliches Niveau erreicht, ist wirklich nicht notwendig.“

In diesen Tagen jähren sich die bewegenden Bilder aus Ungarn zum ersten Mal. Bilder von Zehntausenden Flüchtlingen, die von dort aus Richtung Deutschland strömen – erst in Zügen, später zu Fuß auf Autobahnen. Und es jähren sich die Worte von Kanzlerin Angela Merkel, die den Deutschen zurief: „Wir schaffen das.“ Ungarn wollte die Menschen aus Krisen- und Armutsregionen nicht haben, schon damals ging die Regierung unter Viktor Orbán rigide gegen sie vor. Léderer schämte sich im Sommer 2015 für seine Regierung und dachte zugleich, viel schlimmer könne es nicht kommen. Er irrte.

Der 43-Jährige ist selbstständiger Finanzberater in Budapest. Im letzten Sommer war er einer der Aktivisten der Facebook-Initiative Migration Aid, in der sich freiwillige Helfer zusammengeschlossen hatten, um gestrandeten Flüchtlingen zu helfen. Damals hatte die ungarische Regierung ihre erste große Plakatkampagne gegen Flüchtlinge gestartet, mit Slogans wie: „Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn nicht die Arbeit wegnehmen!“ Vorgeblich waren sie an Flüchtlinge gerichtet, geschrieben in ungarischer Sprache.

Die Staatsmedien warnen tagtäglich vor der „Migrantenflut“

Orbán und seine Regierung steigern sich pünktlich zum Jahrestag in ihrem Vorgehen gegen Flüchtlinge in eine in Europa beispiellose propagandistische Hysterie. Derzeit hängen im Land nicht nur Tausende Anti-Flüchtlingsplakate, auch die gleichgeschalteten Staatsmedien warnen in den Nachrichten und mit Werbespots tagtäglich vor der „Migrantenflut“.

Orbán selbst spricht davon, dass die von der „Brüsseler Reichsbürokratie“ geförderte illegale Einwanderung das christliche Abendland zerstören werde. Ein Europa-Abgeordneter seiner Partei Fidesz twitterte, man solle zur Abschreckung muslimischer Flüchtlinge Schweineköpfe an die Grenzzäune zu Serbien und Kroatien hängen.

Die Kampagne dient dazu, die ungarischen Bürger vor dem Referendum über die EU-Flüchtlingsquoten auf die Regierungslinie einzuschwören. Die Abstimmung findet am 2. Oktober statt, die Frage lautet: „Wollen Sie, dass die Europäische Union Ungarn auch ohne Zustimmung des ungarischen Parlamentes eine verpflichtende Ansiedlung nicht-ungarischer Staatsbürger vorschreiben kann?“

Parallel zur Referendumskampagne führte die ungarische Regierung Anfang Juli die sogenannte „tiefe Grenzkontrolle“ ein: Greift die Polizei Flüchtlinge nach einem illegalen Grenzübertritt in einem acht Kilometer breiten Streifen auf, kann sie sie wieder hinter den Grenzzaun zurückschicken. Das ist seitdem in Hunderten Fällen geschehen – laut internationalen Flüchtlingsorganisationen wie dem UNHCR sind das illegale, der Genfer Flüchtlingskonvention widersprechende Abschiebungen. Ungarische Behörden argumentieren jedoch, dass zwischen Grenzzaun und Grenzlinie zu Serbien noch einige Meter ungarisches Territorium liegen. Flüchtlinge würden also nur auf ungarisches Territorium zu sogenannten Transitzonen geleitet, wo sie legal Asyl beantragen könnten.

Derzeit rekrutiert die ungarische Regierung zusätzlich zu den bereits knapp 10.000 im Einsatz befindlichen Grenzpolizisten und Soldaten weitere 3000 sogenannte „Grenzjäger“, die ab Anfang September nach nur wenige Tage dauernden Trainingskursen illegal eingereiste Flüchtlinge abfangen sollen. Orbán kündigte unlängst außerdem an, dass Ungarn an der Grenze zu Serbien und Kroatien weitere Zäune bauen werde. Die Grenze zu beiden Ländern sei zwar durch die vergangenes Jahr errichteten Zäune bereits „hermetisch abgeriegelt“, allerdings brauche man ein „massiveres und ernstes Schutzsystem“, das auch „mehrere Hunderttausend Menschen aufhalten“ könne.

Die Begründung des ungarischen Regierungssprechers Zoltán Kovács für diese Maßnahmen geht so: „Migration ist eine Gefahr, Migration geht mit Terrorismus einher.“ Vor allem die Anti-Flüchtlingskampagne für das Referendum vom 2. Oktober rechtfertigt er. „Manchmal braucht man solche Mittel, um den Leuten klarzumachen, um welche Gefahr es geht“, so Kovács.

Dass das Referendum eine Testabstimmung für einen mittelfristigen ungarischen EU-Austritt sein soll, wie manche ungarische Medien mutmaßen, bestreitet der Sprecher. „Ungarn hat immer zu Europa gehört, und so wird das auch bleiben. Wir möchten aber die EU ändern, damit sie eine Zukunft hat. Es wäre besser, wenn die EU auf Ungarn hören würde.“

Ein Akt politischer Kraftmeierei ohne juristische Bedeutung

Der Politologe Attila Tibor Nagy vom Budapester Méltányosság-Institut weist darauf hin, dass das Referendum lediglich ein Akt politischer Kraftmeierei ohne juristische Bedeutung sei, da das ungarische Parlament längst gegen die geplante EU-Flüchtlingsquote gestimmt habe. „Der Orbán-Regierung geht es um eine innenpolitische Bestätigung für ihren Kurs und um ein politisches Signal nach Brüssel“, so Nagy. „Sie hofft, dass auch andere Mitgliedstaaten dem Beispiel des ungarischen Referendums folgen werden.“

Auch Gábor Iványi schämt sich für dieses Referendum und für die derzeitige Anti-Flüchtlingskampagne. Der korpulente 64-jährige Methodistenpfarrer mit dem langen Rauschebart ist einer der bekanntesten ungarischen Geistlichen. Als junger Mann war er antikommunistischer Bürgerrechtler, seit dem Ende der Diktatur kümmert er sich vor allem um die Armen und Ausgegrenzten – um Obdachlose, um Roma, um Flüchtlinge.

Mit Orbán verbindet ihn etwas sehr Persönliches: Vor einem Vierteljahrhundert war er es, der den damaligen Jungliberalen Orbán und dessen Frau Anikó kirchlich traute, später taufte er zwei der fünf Kinder des Paares. Deshalb wirkt es geradezu bestürzend zynisch, was Iványi vor einigen Wochen erlebte: Als er mit Freunden und Mitarbeitern ins ungarisch-serbische Grenzgebiet fuhr, um gestrandeten Flüchtlingen Essen zu bringen und mobile Toiletten aufzustellen, verweigerten ihm die Behörden des Orbán-Staates den Zutritt. Begründung: Er gefährde die Sicherheit im Grenzgebiet.

„Es ist sehr schmerzlich“, sagt Iványi, „christliche, demokratische und europäische Werte zählen bei uns nichts mehr.“

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