07. September 2016 · Kommentare deaktiviert für „Die Wehrlosen nicht zum Spielball machen“ · Kategorien: Lesetipps

Quelle: NZZ

Kenya beherbergt das Flüchtlingslager Dadaab – das grösste der Welt. Es ist auch die Heimat der Schriftstellerin Yvonne Owuor, die Europas Debatte über die «Flüchtlingskrise» hart infrage stellt.

INTERVIEW von Paul Ostwald

Yvonne Owuor, unlängst erschien Ihr Debütroman «Der Ort, an dem die Reise endet» auf Deutsch. Es gibt im Grunde drei Protagonisten, und alle sind auf der Suche nach einer neuen Heimat.

Tatsächlich, die Hauptfiguren meines Romans sind auf ihre Art Variationen des Konzepts Heimat. Da gibt es den nomadischen Vater, die kosmopolitische Tochter und den britischen Liebhaber, der nach seinem Vater sucht. Kenya, der Ort der Handlung, ist immer schon ein Land der Immigration gewesen. Seit Jahrtausenden ziehen Nomaden durch unsere Länder, dann kam der Kolonialismus. Das macht unseren Charakter als Nation aus.

Ihr Heimatland Kenya beheimatet auch das grösste Flüchtlingslager der Welt, Dadaab. Was bedeutet «Heimat» für diese Menschen?

Ganze Generationen sind dort im Schwebezustand aufgewachsen, 300 000 Menschen sind es zurzeit. Für sie ist ihr Herkunftsland keine Heimat mehr, in Kenya anerkannt sind sie aber auch nicht. Die Erfahrungen aus Dadaab zeigen uns: Nur wenn Menschen wirklich ein neues Zuhause finden dürfen, kommen sie zur Ruhe. Und damit auch die Gesellschaft, die sie aufnimmt.

Was kann Europa aus der kenyanischen Erfahrung mit Dadaab lernen?

Eines wissen wir inzwischen: Der erste Schritt in Richtung einer guten Politik wäre es, anzuerkennen, dass viele dieser Menschen auf lange Sicht bleiben werden. Falsch ist die Prämisse: Die werden schon wieder gehen. Alle Politik, die man daraus ableitet, schlägt fehl. Akzeptiert man stattdessen, dass die Menschen bis auf weiteres bleiben, dann entstehen auf einmal Perspektiven, die dann auch nicht nur für die Flüchtlinge wichtig sind. Nur so kommt man letztlich den Problemen bei.

Probleme wie etwa Gewaltbereitschaft und Radikalisierung? Davon spricht ja auch gerne der kenyanische Präsident Uhuru Kenyatta mit Blick auf Dadaab: Flüchtlinge würden Gewalt mitbringen.

Natürlich darf man das nicht ignorieren. Einige dieser Flüchtlinge haben die Gewalt und den Hass mit in ihre neue Heimat getragen. Sie brechen damit den Kodex der Gastfreundschaft und müssen die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Aber lassen Sie uns realistisch bleiben, es ist nur ein kleiner Bruchteil der Menschen.

Also glauben Sie nicht an das Argument, Orte wie Dadaab seien Brutstätten des Terrorismus?

Nein, absolut nicht. Es gibt immer Einzeltäter, die Menschlichkeit ausnutzen werden. Aber gerade bei Menschen, die offensichtlich vor islamistischem Terror geflohen sind, werden Sie am wenigsten Sympathie für diese Gruppen finden. Gewalt reist leider trotzdem immer mit. Das war auch bei den europäischen Flüchtlingen in den 1930er Jahren so, die syrischen und afrikanischen Flüchtlinge heute stellen in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Auch wenn man dieses Risiko niemals vollkommen ausschalten kann, die Statistiken zeigen uns, wie gering die Zahlen sind.

Warum spricht die kenyanische Regierung dann immer wieder davon, dass sie Dadaab aufgrund dieses Sicherheitsproblems schliessen will?

Weil unsere Regierung gesehen hat, was für einen guten Deal Erdogan aushandeln konnte. Drei Milliarden! Darauf hofft sie jetzt auch, genauso wie in Libyen und vielen anderen Ländern. Nach dem Motto «Kostenlos passen wir nicht auf eure Flüchtlinge auf». Die Wehrlosesten zum Spielball zu machen: Das ist nicht nur moralisch verwerflich, das ist widerwärtig.

Also sollte Europa den Flüchtlingen mit mehr Offenheit und Gelassenheit begegnen?

Ja. Vor allem verwundert mich an der Reaktion, dass Europa seine eigene Geschichte anscheinend vergessen hat. Jahrhundertelang sind Europäer in andere Teile der Welt gereist und haben sich dort eingelebt. Im Gegensatz zur heutigen Situation sind sie noch viel weitergegangen, haben die Kulturen und Geschichten der dortigen Einwohner in ihrem Sinne umgeschrieben. Daran gemessen sind die heutigen Bewegungen in Europa doch kaum erheblich.

Das war ja auch Angela Merkels erste Reaktion: Ein gelassenes «Wir schaffen das». Wie nahm man diese Geste in Kenya auf?

Es war unglaublich, auch in Kenya gab es tagelang kein anderes Thema. Ich erlebte den Moment gemeinsam mit meiner Familie am Fernseher in meiner Heimatstadt Nairobi. Da flimmerten die Bilder von Merkel vor uns, und meine Mutter stand spontan auf und applaudierte – etwas, was sie sonst nie tun würde. In dem Moment wurde auch mir bewusst: Da ist etwas zutiefst Menschliches an dieser Geste. Es war inmitten der Panikmache und Hetze eines David Cameron – erinnern wir uns an seine Rede vom «Schwarm der Migranten» – unheimlich wichtig.

Seitdem ist viel passiert. Merkels Entscheidung wird in Europa nicht gerade von vielen geteilt. Wir sprechen gerne von einer «Krise», der «Flüchtlingskrise». Warum sind wir so fasziniert von dem Krisen-Szenario?

Richtig, warum hat Europa eine «Krise»? Nicht weil Menschen in Bewegung sind und durch die Welt wandern. Das war schon immer so. Sondern weil einige offenbar das Gefühl haben, diese Wanderungen würden die «Zivilisation» gefährden, ihre Zivilisation. Ehrlich gesagt, bin ich mir noch nicht sicher, woher dieses Gefühl kommt. Ist es eine Krise, weil die Ankommenden nicht «weiss» sind? Weil sie «muslimisch» sind? Ist es die Angst davor, nicht genügend Ressourcen zu haben – auch emotionale Ressourcen –, um diese Menschen aufzunehmen? Diesen Fragen muss sich Europa stellen. Die Zahlen können es nicht sein, kleinere und weitaus ärmere Länder haben viel mehr Menschen aufgenommen.

Zum Beispiel Ihr Heimatland Kenya?

Genau. Kaum einer in Europa weiss, dass Kenya in den 1930er und 1940er Jahren jüdische und politische Flüchtlinge aufgenommen hat. Auch Dissidenten aus der Sowjetunion kamen in Afrika unter. Es gab diejenigen, die vor Gewalt und Krieg fliehen mussten. Genauso wie die Menschen aus Syrien heute. Aber es gab auch immer jene, die flohen, um sich im Umkreis anderer Menschen neu erfinden zu können. Tania Blixen, deren Autobiografie als «Jenseits von Afrika» verfilmt wurde, gehörte dazu.

Immer wieder kommt auch dieses Argument: Das sind ja gar nicht alle «Flüchtlinge». Viele sind ja nur hier, weil sie ein besseres Leben suchen. Was stimmt nicht mit diesem Argument?

Wer so argumentiert, sollte sich fragen, was für eine Zukunft er sich für sein eigenes Land wünscht. Und sich dann fragen, warum jemand anderes, der die gleiche Zukunft mitbauen will, ein Problem darstellt. Es waren europäische Einwanderer in den Vereinigten Staaten, die genau das getan haben: Sie kamen ohne Wohlstand, nur mit dem Traum, das Land im Sinne des «American Dream» zu verändern. Sie haben das Land verändert und tun es noch heute.

Jetzt leben Tausende Flüchtlinge einen «German Dream» –

– und sie arbeiten an ihm, genau. Gerade in Zeiten, in denen viele in Europa das Träumen von der eigenen Zukunft verlernt haben, kann das eine gigantische Bereicherung sein; die kulturellen Diskussionen sind es jetzt schon. Davon wird Europa auf lange Sicht profitieren, wie es die Vereinigten Staaten damals taten. Wenn man das akzeptiert, kann man auch endlich diese Diskussion hinter sich lassen, ob Immigration zu befürworten sei – und gemeinsam am eigenen Traum von Europa arbeiten.

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