06. September 2016 · Kommentare deaktiviert für „Willkommenskultur : Illusionslos glücklich“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: Zeit Online

Vor einem Jahr wärmte sich Deutschland an den Bildern vom Münchner Hauptbahnhof. Zwar zerplatzten in Köln und Würzburg Hoffnungen. Aber die Willkommenskultur lebt weiter.

Von Ferdinand Otto

Polizisten halten Kleinkinder auf dem Arm, Passanten applaudieren erschöpften Flüchtlingen, die zu Tausenden aus den Zügen strömen, Helfer verteilen Wasserflaschen, München sammelt binnen Stunden einen Jahresvorrat Windeln, Deorollern und Bananen. Die Bilder aus dem Spätsommer 2015 gingen um die Welt. Und Deutschland gefiel sich in seiner Rolle als letzte Bastion der Menschlichkeit in einem Europa voller Orbáns.

Seitdem hat sich vieles geändert. Horst Seehofer erklärte die Willkommenskultur offiziell für beendet. Die AfD schien damals klinisch tot, ist heute im Höhenflug. Burkas und Burkinis, Erdoğan und die doppelte Staatsangehörigkeit, Terrorismus und „Sex-Mob“: Die Mehrheitsgesellschaft blickt längst kälter, zögerlicher und misstrauischer auf Migranten. Und das vielleicht nicht trotz sondern gerade wegen der Bilder vom Münchner Hauptbahnhof.

Nach Köln, Würzburg und Ansbach hört und liest man auch in linken und liberalen Kreisen immer wieder Kommentare, die in etwa so klingen: Deutschland schenkt Teddybären und statt dankbar zu sein, missbrauchen Flüchtlinge Frauen und metzeln Passanten im Namen des IS nieder. Und statt wie allenthalben versprochen den Fachkräftemangel zu beheben, lassen die Migranten erst mal die Arbeitslosenzahlen steigen. Unerwiderte Liebe, das Gefühl missbrauchter Gastfreundschaft, enttäuschte Hoffnungen, zerplatzte Illusionen – das Selbstbild der freundlichen Migrationsgesellschaft scheint zu wackeln. Oder?

Was ist geblieben vom Willkommenssommer?

„Das Netz von damals gibt es noch und es hält immer noch“, sagt die Münchnerin Vaniessa Rashid. Am Nachmittag des 31. August 2015 erreichte sie über einen Verteiler eine E-Mail, dass Tausende in Zügen aus Budapest nach München sitzen und dort in wenigen Stunden ankommen werden. Die Kurdin Rashid war elektrisiert. Sie war selbst vor 19 Jahren über die Balkanroute nach Deutschland geflohen. Die nächsten 48 Stunden zogen wie im Rausch an ihr vorbei. Sie verpasste ihre letzte U-Bahn nach Hause. Und später auch die erste. Mit ihren Mitstreitern klapperte sie Bäckereien rund um den Hauptbahnhof ab, bat um Brote, organisierte einen Lkw mit Lebensmitteln von einer großen Supermarktkette, suchte ein Lagerplatz für die Spenden, die Hunderte Münchner abluden. Nach einer schlaflosen Nacht am Hauptbahnhof telefonierte sie mit allen Münchner Radiostationen und startete einen Aufruf, der überall über den Äther ging. Dass „München leuchtete“, wie es die Süddeutsche Zeitung kommentierte, war nicht zuletzt Rashids Verdienst. Und heute?

„Die Helfer sind nicht mehr so sichtbar, aber sie sind noch da. Die Kontakte, die Facebook-Gruppen, all das gibt es noch“, sagt Rashid. Dezentral haben sich in jeder Flüchtlingsunterkunft Helferkreise gegründet, die teils schon Arbeitsgruppen und Schichtpläne eingeteilt hatten, lange bevor die ersten Flüchtlinge eingezogen waren. Als Rashid beispielsweise feststellte, dass es in der BAMF-Außenstelle in Augsburg keine Kinderspielecke gab, obwohl dort Familien oft stundenlang auf ihre Termine warten, hat sie dieses Netzwerk kurzerhand angezapft: „Innerhalb von wenigen Stunden hatten wir beinahe die Ausstattung eines Kindergartens beisammen.“

Die Silvesternacht in Köln nennt sie einen Anschlag auf die Psyche der Deutschen. Kulturelle Unterschiede dürfe man nicht unterschätzen: „Wenn ich zu Besuch in Kurdistan bin, überlege ich mir auch, welches Kleid ich anziehen kann“, sagt sie. „Aber deshalb müssen wir unter den Flüchtlingen umso überzeugender für unsere Werte werben“, sagt sie. Mehr Engagement, nicht weniger, ist ihre Antwort auf die letzten Monate.

Ein realistischer Blick ohne jede Romantik

Wer sich nur von dem Emotionen und den schönen Bildern aus München mitreißen ließ, muss enttäuscht sein am Ende des Jahres mit einer Million Flüchtlingen in Deutschland. Wer hingegen aus reflektierter Überzeugung mit realistischen Erwartungen half, einfach weil es richtig ist, den Schwachen zu helfen, wird damit so schnell nicht aufhören.

Eine Stelle, um Helfer und Stadt zu vernetzen

Der beste Beweis dafür, dass Münchens ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge kein Strohfeuer sondern nachhaltig war, ist Martina Kreis. Ihr hat die Stadt nach den Erfahrungen vom vergangenen Sommer die Fachstelle für Volunteering und Ehrenamt übertragen – eine Stelle, die es so bislang nicht gab. Sie hat den Überblick und vernetzt Initiativen und Helferkreise mit der Stadt und den Wohlfahrtsverbänden: „Weder die Silvesternacht noch die Anschläge von Würzburg und Ansbach haben das Engagement der Menschen schrumpfen lassen“, sagt Kreis. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die Bertelsmann Stiftung, die das ehrenamtliche Engagement in Deutschland empirisch untersucht hat: Viele spontane Initiativen institutionalisieren sich, sie sind unersetzlich für die Integration und ihr Einsatzwille ist ungebrochen.

„Ich konzentriere mich auf die Erfolge“

Beinahe alle Ehrenamtlichen, mit denen man spricht, sehen das so, auch Tobias Krebs. Als selbstständiger IT-Unternehmer hat er in Beratungsfirmen gearbeitet. Jetzt gibt er im Münchner Stadtteil Freiham mehrmals die Woche Deutschunterricht und spielt mit Flüchtlingen auf der Gitarre: „Wenn ich mich im Job bei jedem Rückschlag entmutigen ließe, wäre ich arbeitslos geblieben“, sagt er. Manche Flüchtlinge erscheinen nicht zur Deutschstunde, doch die Enttäuschung darüber lässt er nicht an sich heran: „Klar, manche haben kein Interesse daran, schnell Deutsch zu lernen. Ich konzentriere mich auf die Erfolge. Es nicht zu versuchen und den Kopf in den Sand zu stecken, ist keine Alternative.“ Was ihm weit größere Sorgen bereitet, sind die rechten Parolen, die plötzlich wieder gesellschaftsfähig zu sein scheinen, „auch bei Leuten, die man eigentlich immer für gebildet gehalten hat.“

„Man sollte keine falschen Illusionen haben“, sagt Ursula Bear. Wer so lange wie sie mit Flüchtlingen arbeitet, bekommt einen realistischen Blick, ganz ohne jede Romantik. Baer ist Vorsitzende des Vereins Flüchtlingshilfe München, der sich seit den Balkankriegen, ausschließlich von Spenden finanziert, um Flüchtlinge kümmert. Und die Sozialpädagogin Bear sprüht immer noch vor Energie: Sie bringt in der Erstaufnahmeeinrichtung Bayernkaserne Erwachsenen Deutsch bei, oft genug lernen ihre Schützlinge zum ersten Mal Lesen und Schreiben. Im Selbstverlag hat der Verein 200.000 Lehrbücher, unter anderem in Arabisch, Farsi, Dari und Tigrinisch gedruckt und verteilt. Baer war immer klar, dass die Flüchtlinge ihre eigene Kultur mitbringen und dass dadurch Reibungen entstehen können. Anders als mancher Helfer am Hauptbahnhof wollte sie nicht vor Mitleid zerschmelzen oder „betroffen daneben stehen“ sondern anpacken. „Jeder Mensch, der nachdenkt, konnte skeptisch werden, ob uns das über den Kopf wächst“, sagt Baer. Aber: „Man kann sagen, es wird nichts, dann wird es auch nichts. Oder man fragt sich: Was kann ich tun, damit es besser wird.“

Kommentare geschlossen.