15. Februar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Balkanroute ade?“ · Kategorien: Deutschland, Europa, Griechenland, Türkei · Tags: ,

Quelle: FAZ

Ein geplantes Umsiedlungsprogramm könnte sowohl positive als auch negative Konsequenzen für Flüchtlinge haben. Kommen bald die ersten Flüchtlinge mit dem Flugzeug aus der Türkei nach Deutschland?

von Michael Martens, Athen

Die Flüchtlingskrise könnte bald ungewohnte neue Bilder produzieren, schöne und hässliche. Die schönen: glückliche syrische Familien, die in Ankara, Istanbul oder Gaziantep in ein Flugzeug nach Deutschland, Schweden oder Österreich steigen, um dort als Flüchtlinge aufgenommen zu werden. Ohne Schlepperbanden, ohne die potentiell lebensgefährliche Überfahrt mit Schlauchbooten auf griechische Inseln, ohne den beschwerlichen Weg über die Balkanroute.

Auf den hässlichen Bildern könnten ebenfalls syrische Familien zu sehen sein, aber auch Pakistaner, Iraner und andere Migranten. Diese Bilder drohen auf Lesbos, Kos, Chios und den anderen griechischen Ägäisinseln, wo die meisten Einwanderer nach Europa erstmals den Boden der EU betreten. Auf solchen Bildern wären wütende, verzweifelte, wohl auch weinende Menschen zu sehen, die notfalls mit Gewalt auf Fähren gebracht werden, die sie zurückbringen in die Türkei, die von Griechenland unlängst als „sicherer Drittstaat“ für Flüchtlinge und Migranten eingestuft worden ist.

Ein Plan jener „Koalition der Willigen“

Auf solche Bilder könnte ein Plan hinauslaufen, der derzeit im Eiltempo zwischen der Türkei, Deutschland und einigen weiteren Staaten ausgearbeitet wird. Ein Entwurf unter der Bezeichnung „Schlüsselelemente eines Umsiedlungsprogramms / humanitären Aufnahmeprogramms mit der Türkei“, welcher der F.A.Z. vorliegt, legt die Details fest, nach denen der Plan funktionieren soll. Zwar heißt es darin „alle Mitgliedstaaten der EU sind eingeladen, sich an dem Programm zu beteiligen“, doch letztlich ist es ein Plan jener informellen „Koalition der Willigen“ unter Führung Deutschlands, die bereit ist, syrische Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufzunehmen. Allerdings wird in dem Entwurf auch an die Verantwortung anderer Kontinente erinnert: Die Staaten der EU, heißt es da, werden sich „bemühen, Staaten außerhalb der EU zu ermutigen, an diesem Programm teilzunehmen“.

Von Zahlen ist in dem Entwurf noch nicht die Rede, es gibt dazu bisher nur Gedankenspiele. So könnten sich die „Koalition der Willigen“ gegenüber der Türkei verpflichten, ab einem bestimmten – sehr nahen – Stichtag ein Jahr lang 650 syrische Flüchtlinge pro Tag aus der Türkei nach Europa zu fliegen, also knapp 240.000 insgesamt. Dass es nur um syrische Flüchtlinge geht und nicht um Iraker, Afghanen oder andere, wird in dem Entwurf ausdrücklich festgehalten.

Vier Kriterien sollen ausschlaggebend sein: Aufgenommen werden syrische Staatsangehörige, die von den türkischen Behörden vor dem 29. November 2015 registriert wurden und „keine Bedrohung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit“ in den aufnehmenden Ländern darstellen. Und schließlich soll – Stichwort alleinreisende junge Männer – „ein maßgeblicher Teil des Programms Familien zugutekommen“. In einer „ersten Phase“, deren exakter Beginn nicht genannt wird, die aber bereits in wenigen Wochen anstehen könnte, sollen die teilnehmenden Staaten mit der Aufnahme beginnen.

Hässliche Szenen von Initiatoren durchaus gewollt

Dafür erwarten die Europäer eine Gegenleistung von der Türkei, die derzeit so formuliert ist: „Die Mitgliedstaaten nehmen an dieser ersten Phase auf der Grundlage der Annahme teil, dass die Türkei die Zahl der Personen, die irregulär die Grenze der Türkei zur EU überqueren, nachhaltig und deutlich reduziert. Wenn die gesamte Zahl irregulärer Migranten aus der Türkei in die EU während der Zeitdauer des Umsiedlungsprogramms die Zahl x im Monat überschreitet, wird die Zahl der umzusiedelnden Personen nach folgender Formel gesenkt: (…)“ Die Formel gibt es noch nicht, und es ist auch nicht sicher, ob sie in eine abschließende Vereinbarung Eingang findet.

Der Plan läuft nämlich darauf hinaus, dass die Türkei sowohl Flüchtlinge als auch irreguläre Migranten, die nach Beginn des Umsiedlungsprogramms noch auf Lesbos und den anderen griechischen Inseln ankommen, umgehend zurücknimmt. Das würde, sollte es wirklich so kommen, vermutlich zu einigen hässlichen Szenen auf den griechischen Inseln führen, die aber als Teil des Versuchs, aus unkontrollierter illegaler kontrollierte legale Migration zu machen, von den Initiatoren durchaus gewollt oder zumindest geduldet sind. Denn wenn sich diese Bilder über die sozialen Medien verbreiten und sich herumspricht, dass Ankommende auf den Inseln festgehalten und wieder abgeschoben werden, werde sehr bald ohnehin niemand mehr die Überfahrt antreten, so das Kalkül.

Aus Lesbos, dem bisher sperrangelweit offenen Tor nach Europa, wäre dann nämlich eine Sackgasse in der Ägäis geworden. Und wer wird noch 1000 Euro an eine Schlepperbande in Bodrum oder Izmir bezahlen, wenn er damit rechnen muss, wenige Tage später wieder in der Türkei zu sein? Letztlich geht es bei dem Plan nur um die Anwendung des seit mehr als einem Jahrzehnt geltenden türkisch-griechischen Rücknahmeabkommens, laut dem die Türkei eigentlich schon jetzt verpflichtet wäre, jeden über ihre Grenzen nach Griechenland kommenden und dort als Asylbewerber abgelehnten Migranten zurückzunehmen. Nur hat dieses Abkommen bisher nie funktioniert.

Die meisten Flüchtlinge stellten keinen Asylantrag

Zum einen fehlte in der Türkei der politische Wille dazu, es zu erfüllen. Das soll sich durch die Abnahmen von Flüchtlingskontingenten aus der Türkei nun ändern. Doch es lag nicht nur an der Türkei, dass das Rücknahmeabkommen bisher nie richtig funktionierte. Die meisten Migranten und Flüchtlinge stellten nämlich ohnehin keinen Antrag auf Asyl bei den griechischen Behörden, und Griechenland winkte sie gleichsam nur durch auf ihrem Weg nach Norden.

Dass Griechenland jetzt willens und in der Lage wäre, die Ankommenden auf den Inseln festzuhalten, sie zum Abgeben eines Asylantrags aufzufordern, diesen binnen weniger Tage als unzulässig abzulehnen und sie in den „sicheren Drittstaat“ Türkei zurückzuschicken, ist freilich äußerst ungewiss und damit ein großer Schwachpunkt des Plans. Denn auf den griechischen Inseln sind bisher keine Vorbereitungen dazu getroffen worden. Wenn überhaupt, so wird es wohl noch Wochen dauern, bis die griechischen Behörden in der Lage wären, ihre Aufgaben zu erfüllen. Und das könnte bedeuten: Am Anfang kämen sowohl legale Kontingente aus der Türkei mit dem Flugzeug als auch weiterhin Migranten über die Balkanroute, was für Bundeskanzlerin Angela Merkel gewiss die schlechteste mögliche Kombination wäre.

Es geht um Tage und Wochen, nicht um Monate

Wichtig ist den Autoren des Entwurfs vor allem die Geschwindigkeit, mit der eine Änderung herbeigeführt werden muss. Aus allen Punkten des Plans wird deutlich: Es geht um Tage und Wochen, nicht um Monate. Möglichst schnell soll Vorsorge dafür getroffen werden, dass sich 2016 deutlich von 2015 unterscheidet. Darum geht es in dem Abschnitt „beschleunigte Umsiedlungsprozeduren“, in dem es heißt: „Gemeinsame Bearbeitungszentren (der beteiligten Staaten) werden in der Nähe türkische Flughäfen eingerichtet“. Die türkischen Behörden sollen dann, nach Abstimmung mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, dem aber aufgrund seiner trägen Strukturen bewusst keine tragende Rolle in dem Vorhaben zugewiesen wird, „Kandidaten zur Umsiedlung“ zu den europäischen Prüfungszentren bringen.

Dort analysieren die aufnehmenden Staaten die Dokumente der Kandidaten und nehmen eine Sicherheitsüberprüfung vor. Die endgültige Entscheidung legt bei den aufnehmenden Staaten, die auch die Kosten für den Flug der Syrer nach Europa bezahlen. Die Prüfungszentren sollen schnell arbeiten, jeder Fall soll innerhalb von wenigen Tagen geprüft werden, denn eine detaillierte Prüfung ist erst vorgesehen, wenn die Syrer in Europa sind. Anders kann eine nennenswerte Zahl von der Türkei abzunehmenden Flüchtlingen nicht erreicht werden. Dennoch werden die Zentren erhebliches Personal benötigen. Wer es stellen soll, ist in dem bisherigen Entwurf nicht geklärt. „Detaillierte Vereinbarungen zu einer Vielzahl technischer Themen sind nötig, besonders bezüglich der Prüfungszentren, unter anderem zu ihrer Anzahl und den Standorten und zu der Frage, wer sie errichten und betreiben soll, zu ihrer Finanzierung und den logistischen Voraussetzungen.“

Eine gemeinsame Kommission aus Türken, der EU-Kommission sowie den teilnehmenden Staaten soll das lösen und zudem in regelmäßigen Treffen das Funktionieren des Plans zu prüfen. All das ist also ein Plan mit vielen Ungewissheiten, doch nach dem absehbaren Scheitern des europäischen Plans zur Umsiedlung von gerade einmal 160.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland ist es zugleich ein genauer durchdachter Versuch, die Kontrolle zurückzugewinnen – solange noch Zeit dafür bleibt.

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.