08. Mai 2015 · Kommentare deaktiviert für »Die Menschen flüchten, egal was sie erwartet« – iz3w · Kategorien: Eritrea, Israel

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In der Zeit von 2009 bis 2013 starben auf der ägyptischen Halbinsel Sinai schätzungsweise 4.000 Menschen in den Händen von Lösegelderpressern (siehe iz3w 323 und 330). Die meisten der Geflüchteten kamen aus Eritrea, ein kleiner Teil aus Äthiopien oder dem Sudan. Nachdem der Weg über Libyen nach Europa weitge­hend versperrt war, wählten sie die Route durch Sudan und Ägyp­ten, um von hier über den Sinai nach Israel einzureisen (siehe iz3w 332 und 341). Im März 2014 überreichten 24 Länder einen Bericht an den UN-Menschenrechtsrat, in dem sie das Ende der Folter fordern und dazu aufrufen, die Folterer zu verhaften und die Über­lebenden und Opfer medizinisch zu versorgen sowie ihre Asylan­träge ohne Verzögerung zu bearbeiten.

Interview mit der israelischen Flüchtlings-Aktivistin Merav Bat-Gil

Die Aktivistin Merav Bat-Gil arbeitet für die Organisation ASSAF, die in Israel Flüchtlingshilfe leistet. Wir befragten sie zum Stand der Dinge.

iz3w: Was erzählen Überlebende der Folter auf dem Sinai, die bei Ihrer Organisation Unterstützung suchen?

Merav Bat-Gil: Die Flüchtlinge erzählen uns entsetzliche Geschich­ten darüber, wie sie entführt oder einfach zu den Foltercamps abtransportiert wurden, wie sie dort über Tage oder Monate ohne Unterlass gefoltert wurden, um von ihren Familien Geld zu erpres­sen. Diejenigen, die der Folter entkommen konnten, berichten von Vergewaltigungen, Elektroschocks. Sie wurden verbrannt oder an den Füßen aufgehängt, andere an den Armen. Sie wurden gezwun­gen, ununterbrochen zu arbeiten, im Bau, in der Reinigung. Frau­en und Mädchen haben Fürchterliches erlebt. Die meisten Über­lebenden von Folter kamen allerdings vor 2012 nach Israel, denn seit die Grenze zu Ägypten verriegelt ist, schafft es kaum noch je­mand hinüber. Inzwischen nehmen die Flüchtlinge wieder den Weg über Libyen, wo sie nicht selten ein ähnliches Schicksal ereilt.

Dieses organisierte Verbrechen begann vor rund sechs jähren. Wie konnte es dazu kommen?

Der Menschenhandel kam auf dem Sinai 2005/2006 auf, das Foltern begann 2009. Rund 25.000 bis 30.000 Menschen wurden zwischen 2009 und 2013 Opfer von Menschenhandel. Möglich war das, weil es auf dem Sinai keinerlei Kontrollen seitens des ägyptischen Staates gab, also konnten hier die heute im Menschenhandel tätigen Banden den Flüchtlingen den Weg zur Grenze weisen. Der Weg durch die Wüste kostete bis zu 15.000 Dollar. Mit dem Bau des Grenzzauns zwischen Israel und Ägypten forderten die Wegweiser mehr und mehr Geld. Dann kamen die Entführungen mit Folterun­gen dazu. Schätzungen zufolge werden damit Lösegeldsummen von 30.000 bis 50.000 Dollar erpresst. Die Geflüchteten werden so lange gefoltert, bis die Angehörigen bereit sind, mindestens die Hälfte oder die gesamte Summe aufzutreiben. Aus einer Studie, die 2013 der EU übermittelt wurde, geht hervor, dass von 2009 bis 2013 rund 620 Millionen Dollar Gewinn damit gemacht wurden.

Das sind hohe Summen in Anbetracht der Tatsache, dass viele Flücht­linge aus eher armen Verhältnissen in Eritrea oder Sudan kommen.

Wir wissen, dass neun von zehn Folteropfern aus Eritrea stammen. Der Weltbank zufolge liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen einer Person dort unter 500 Dollar. Sie geben also alles, was sie haben, leihen sich Geld bei Nachbarn im Dorf, bei Verwandten, die im Ausland leben. Im letzten Jahrzehnt sind über 200.000 Menschen aus Eritrea ausgewandert und leben nun über die gan­ze Welt verteilt. Meistens läuft die Lösegelderpressung so ab, dass die Gefangenen ihre Familienmitglieder anrufen sollen, die ihrerseits Verwandte und Freunde um Geld bitten. Das Lösegeld wurde teilweise aus Europa überwiesen, aus Saudi-Arabien oder den USA.

Was motiviert die Menschen in Eritrea zur Flucht?

Die Menschen flüchten aus Eritrea, egal was sie danach erwar­tet. Eritrea ist politisch sehr isoliert, es gibt kaum Berichte und wenig Präsenz von internationaler Seite. Wir wissen, dass Menschen nach dem Studium zwangsrekrutiert werden. Es geht dabei weni­ger um den Militärdienst, denn sie arbeiten auf dem Bau und legen Straßen oder Dörfer an. Sie wissen nicht, ob und wann sie entlas­sen werden. Sie haben keinen Urlaub zur Erholung oder für Fami­lienbesuche. Die Zwangsrekrutierten sind teilweise Folter ausgesetzt, auch Vergewaltigungen oder anderen Formen körperlicher Gewalt. Es gibt keine Meinungsfreiheit, kein Versammlungsrecht.

Nach Angaben des in Nairobi ansässigen Regional Mixed Mig­ration Sekretariats überqueren monatlich rund 2.000 Personen mit eritreischer Staatsange­hörigkeit die Grenze in den Sudan. Die eritreisch-schwedische Menschenrechtsaktivistin Meron Estefanos geht davon aus, dass inzwischen jeden Monat allein 6.000 Menschen aus Eritrea nach Äthiopien fliehen.

Diejenigen Flüchtlinge, die es bis nach Israel schaffen, werden in der Regel dafür verhaftet, dass sie illegal eingereist sind. Wie sieht ihr rechtlicher Status genau aus?

Israel erkennt die Flüchtlinge in der Regel nicht als Asylsuchen­de an. Außerdem sind Sudanesinnen Bürgerinnen eines als Israel feindlich deklarierten Landes und werden somit für mindestens drei Jahre gefangen genommen. Die gesetzliche Grundlage ist das Anti-Infiltration-Gesetz aus den 1950er Jahren, das Einwanderung verhindern sollte, als umgesiedelte Palästinenserinnen wieder ein­reisten. Und für die Israelis sind so genannte »Eindringlinge« das Selbe wie Terroristen. Nur 1,24 Prozent aller Anträge von Sudane­sinnen wurden in der Vergangenheit beantwortet. Seit 2009 haben 3.125 Sudanesinnen einen Asylantrag eingereicht, die Regierung antwortete auf 45, davon wurden 40 abgelehnt.

Besteht nicht ein Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan?

Ja, Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan dürfen nach interna­tionalem Recht nicht abgeschoben werden, weil diese Länder nicht als sichere Herkunftsländer gelten. Doch die Behörden versuchen die Geflüchteten zu überreden, einen freiwilligen Ausreiseantrag zu unterschreiben. Israel zahlt die Rückreise in das Herkunftsland oder ein Drittland. Die Liste der Länder, die einer Aufnahme zuge­stimmt haben, ist vertraulich. Wir können als Flüchtlingsorganisa­tion den Betroffenen nichts darüber sagen, ob sie bei einer Ausrei­se sicher sind.

Die Knesset hat jüngst eine Ergänzung zum Prevention of Infiltration Law verabschiedet. Was wurde geändert?

Die Gesetzesänderung wirkt sich auf alle Asylsuchenden aus. Diejenigen, die es geschafft haben, seit vielleicht sechs Jahren in Israel zu bleiben, konnten sich vielleicht einen Lebensunterhalt aufbauen und unterstützen nun andere, auch Opfer und Überle­bende von Folter. Innerhalb der Community wächst nun die Span­nung, da sie nicht wissen, was genau passieren wird. Wenn jemand ein Visum verlängern will, kann er daraufhin eine Vorladung von einem Auffanglager erhalten. Das Gesetz zum Schutz vor Eindring­lingen erschwert zugleich Arbeitgeberinnen, Flüchtlinge anzustellen. Auf deren Anstellung werden gegenüber israelischen Arbeitssuchen­den höhere Abgaben erhoben.

Israel hat die UN-Antifolterkonvention unterzeichnet und ist damit verpflichtet, Folteropfern Zugang zu medizinischer Versorgung zu ge­währen, und auch, ihnen einen rechtlichen Status als anerkannte Flüchtlinge zu gewähren. Wie sieht die Praxis aus?

Israel hat nie ein System eingerichtet, um Opfer von Folter zu identifizieren. Es gibt keinen Status, keine Regularien oder ein An­erkennungsverfahren für Überlebende von Folter. Andererseits ist sich das Gesundheitsministerium der Probleme bewusst und hat im vergangenen Jahr eine kleine Klinik mit psychosozialen Diensten für Folteropfer eröffnet. Man weiß also, dass in Israel Betroffene leben, die Unterstützung brauchen. Doch abgesehen von der Klinik, die 2014 weniger als hundert Fälle betreuen konnte und kaum finanzielle Mittel hat, gibt es keine systematische Hilfe.

Im Süden Tel Avivs ist die Stimmung zunehmend gereizt, wie kam es dazu?

Die israelische Regierung gab den Flücht­lingen in der Vergangenheit Busfahrscheine für eine einfache Fahrt nach Tel Aviv Süd. Daher leben hier viele Flüchtlinge. Die Infrastruktur wuchs einfach nicht mit, Tel Aviv musste 35.000 Personen aufnehmen. Eine Beschäftigungsindustrie, die Leute ohne Arbeitsgenehmigung anheuert, ist hier präsent. Das gibt es woanders in Israel so nicht. Würden die sudanesischen Ge­flüchteten eine Arbeitserlaubnis erhalten, würden sie in andere Regionen abwandern und einen Platz zum Leben finden.

Mit der Internetkampagne »Voices from Holot« haben sich die in dem Flüchtlingslager Lebenden zu Wort gemeldet. Wie sieht ihre Selbstor­ganisation aus?

Sie sind untereinander gut organisiert, angefangen bei Kirchen­gruppen, individueller Unterstützung, Kinderbetreuung, bis hin zu kritischen Bewegungen, zum Beispiel im vergangenen Jahr bei den Protesten gegen die Inhaftierung in Holot. Israelis halten Holot für ein offenes Auffanglager, obwohl es von der Gefängnisbehörde verwaltet wird. Diese entscheidet über die Freiheit jedeR einzelnen Insassin: Wohin eine Person gehen und wie lange sie ausgehen darf und auch, wie lange sie im Auffanglager bleiben muss. Tausende Flüchtlinge haben gegen dieses so genannte offene Auffanglager Holot protestiert.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Martina Backes

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