29. November 2014 · Kommentare deaktiviert für „Revolutionen in der arabischen Welt“ – nzz · Kategorien: Nicht zugeordnet · Tags:

NZZ

„Revolutionen in der arabischen Welt […]

Der «arabische Frühling» ist nicht gescheitert. Er hat nur einen schmerzhaften, aber unaufhaltsamen Prozess in der Region beschleunigt.

Drei Massaker pflastern den Weg der arabischen Konterrevolution. Das erste passierte in Ägypten, wo man es offiziell am liebsten aus dem Gedächtnis streichen will. Wer darüber spricht, riskiert harte Strafen im restaurierten Polizeistaat. Am 14. August 2013 waren Sicherheitskräfte gegen Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi auf dem Kairoer Rabaa-al-Adawiya-Platz vorgerückt. Die Islamisten hatten dort ein Zeltlager errichtet, um Mursis Wiedereinsetzung zu erzwingen; Bulldozer, Bodentruppen und Scharfschützen machten dem Treiben ein Ende. Sie töteten nachweislich 817, wahrscheinlich über 1000 Demonstranten – zumeist, wie Human Rights Watch ein Jahr später dokumentierte, durch gezielte Schüsse in Kopf, Hals oder Brust.

Das zweite Massaker ereignete sich am 21. August 2013 in der syrischen Region Ghouta. Bis zu 1400 Zivilisten, mehrheitlich Frauen und Kinder, kamen in der Region östlich von Damaskus bei Giftgasangriffen ums Leben. Mit Boden-Boden-Raketen hatten mutmasslich Regierungstruppen den Kampfstoff Sarin auf Stellungen der Rebellen abgefeuert. Der massenhafte Erstickungstod empörte die Welt, militärische Konsequenzen wurden erwogen und doch wieder verworfen. Das Asad-Regime sass fester im Sattel denn je.

Das dritte Massaker richteten die Kämpfer des Islamischen Staats (IS) an, die das Chaos des syrischen Bürgerkriegs für ihre Zwecke nutzten. In den ersten beiden Augustwochen dieses Jahres metzelten sie 700 Mitglieder des Sheitat-Stammes im Nordosten Syriens ab. Die Sheitat gehörten keiner religiösen Minderheit an, sondern waren arabische Sunniten, die den Jihadisten lediglich die Gefolgschaft verweigert hatten.

Autoritär, aber berechenbar?

Rabaa, Ghouta und Sheitat. Drei Wegmarken für die nicht enden wollende Gewalt, die den Nahen Osten überzogen hat. Der palästinensische Online-Aktivist Iyad el-Baghdadi hat sich die Frage gestellt, für welches dieser Blutbäder man wohl eines Tages Gedenkstätten errichten wird. […]

Wo vor vier Jahren Massenproteste ausbrachen, die man hoffnungsvoll-zärtlich als «arabischen Frühling» beschrieb, versagen oder zerfallen heute Staaten, gleiten Gesellschaften in die Anarchie ab. Wo sie aber zusammengehalten werden, herrschen wieder starke Männer oder korrupte Cliquen, als wäre nichts gewesen. Einzig Tunesien scheint sich zu behaupten, als fragile Demokratie, deren soziale Probleme allerdings noch lange nicht gelöst sind. Ist die Arabellion also gescheitert, oder schlimmer noch: Handelten ihre Protagonisten fahrlässig, weil die alte Ordnung zwar autoritär, aber berechenbar war? Wenn aber die erstarrten Regime tatsächlich so stabil waren, warum konnten sie ihren Sturz dann nicht verhindern?

Keiner kann bezweifeln, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die immensen inneren Widersprüche und demografischen Probleme der arabischen Welt sich entladen mussten. Dabei sei im Übrigen weniger die soziale Not als vielmehr die Massenalphabetisierung ausschlaggebend gewesen, meint der französische Historiker Emanuel Todd: Wo der Bildungsstand niedrig und die Geburtenrate hoch ist, werden Autorität und Autoritäten viel seltener infrage gestellt. Als Geburtsland des «arabischen Frühlings» eignete sich das vergleichsweise moderne Tunesien also bestens. Doch auch in den weniger entwickelten Ländern der Region zündete der Funke, der die Mittel- und Unterschichten auf die Strasse trieb. Und selbst in den religiös gespaltenen Staaten Irak, Syrien und Bahrain fanden sich Protestbewegungen, die so lange erfolgreich waren, wie die konfessionellen Gegensätze nicht hervortraten oder von den Regimen instrumentalisiert wurden.

Wiederholbare Revolution

Die arabische Revolution fand statt, weil sie stattfinden musste. So sieht es Iyad el-Baghdadi, der im April aus seinem Heimatland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, verbannt wurde und seither im Exil in Norwegen lebt. Als er kürzlich auf einer Menschenrechtskonferenz erklärte, er glaube noch immer an den «arabischen Frühling», wirkte er wie aus der Zeit gefallen. Doch es stimmt ja: Die Forderungen der Menschen nach Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und einem Leben in Würde sind aktuell und bleiben unerfüllt. Die Regime der Konterrevolution bieten hingegen keine Lösungen an, sondern setzen weiterhin auf Demagogie, Hurrapatriotismus und Sektierertum. Ihr Versprechen heisst Stabilität, doch es ist nur eine Pseudostabilität, herbeigeführt mit Stiefeltritten und Daumenschrauben. Sie ist nicht nachhaltig. Der Volksaufstand hingegen, einmal geschehen und nicht mehr aus den Köpfen zu radieren, ist wiederholbar.

Im Nahen Osten ist Rückfall statt Aufbruch zu besichtigen. Ägypten behilft sich mit Rezepten von vorgestern, einer Politik des Militarismus wie zu Zeiten Gamal Abdel Nassers, finanziell über Wasser gehalten von den Autokraten am Golf, die ihrerseits ihre vormodernen Gesellschaftsmodelle pflegen. In Jemen und Libyen befindet sich die politische Autorität wieder dort, wo sie seit Jahrhunderten war: bei den Stämmen. Und im sogenannten Kalifat des IS wird die Zeit gleich um 1400 Jahre zurückgedreht. Im Siegeszug des IS lässt sich denn auch die grösste Bankrotterklärung der arabischen Regierungen ablesen, die ihre Länder dem kulturellen Verfall überliessen und den Heilsversprechen der Jihadisten offenbar auch ideologisch nichts entgegenzusetzen haben.

Die Massenproteste von 2011 haben diese Missstände offengelegt und zugleich den Prozess der Auflösung der alten Ordnung beschleunigt, der schon länger in Gang war. In dieser von militärischen und bürokratischen Eliten gestützten Ordnung wurde dem Volk grundsätzlich immer misstraut. Nur so glaubte man Länder modernisieren zu können, die teilweise erst erfunden werden mussten. Dass sich die Menschen aber individualisierten und wie überall auf der Welt Teilhabe forderten, liess sich irgendwann nicht mehr leugnen. Nichts anderes bedeutete der «arabische Frühling» – der als Idee deswegen noch längst nicht gescheitert ist, auch und gerade mit Blick auf die derzeit düsteren Aussichten. Auf dem Weg zur Freiheit wird es nicht bei Rabaa, Ghouta und Sheitat bleiben.“

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