25. Mai 2014 · Kommentare deaktiviert für „Cityness in Africa – Anmerkungen zu AbdouMaliq Simone“ (Bergmann) · Kategorien: Lesetipps

W. Bergmann

Cityness in Africa

Anmerkungen zu den Texten von AbdouMaliq Simone

„Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und seinen Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen ‚geistigen Abenteuers‘ fast die ganze Menschheit erstickt…. Also, meine Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, in dem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind.
Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde

Warum interessiere ich mich für das Leben in Kinshasa, obwohl ich kein Afrikanist, kein Urbanist und kein Entwicklungshelfer bin? Mit dem Voyeurismus der Slum-Touristen hat es etwas gemein, nämlich Neugier. Aber vor allem anderen geht es mir, wenn ich mich für die Neuzusammensetzung der Subjektivität in einer afrikanischen Metropole interessiere, um ein neues Terrain der Kämpfe im globalen Kapitalismus. Das Kapital des 19. und 20. Jahrhunderts kolonisierte und vernichtete die Bauern und nationalisierte / normierte / rationalisierte gleichzeitig die metropolitanen Gesellschaften. Jetzt, im frühen 21. Jahrhundert, subsumiert das Kapital nicht nur die Gesellschaft, nicht nur die normierten Subjekte, sondern auch die Subjektivität der Einzelnen als Produktivkraft und eröffnet damit ein neues Terrain für den prozessierenden Widerspruch zwischen Wert und Nicht-Wert, zwischen der werthaltigen metropolitanen Subjektivität und den peripheren Störkräften, die eine Subjektivität des Nicht-Werts entfalten könnten. Dass dies eine Antwort auf die epochale Krise der industriellen Wertschöpfung und der Moderne ist, soll hier nicht weiter erörtert werden. Der neue Antagonismus hat seinen Ort in den Köpfen der Menschen hier wie dort, wie auch in der Ausbildung sozialer Gegenwelten auf den drei Kontinenten. Es geht also zugleich um neue Subjektivität und um neue Formen sozialer Bewegungen im globalen Kapitalismus. Ich halte an der Auffassung fest, dass das Kapital ein (globales) soziales Verhältnis ist, mit zahlreichen unterschiedlichen Facetten und Kriegsschauplätzen. Es gibt kein Außerhalb mehr. Einer dieser Kriegsschauplätze ist Kinshasa.

In seinem Buch Africa: The Politics of Suffering and Smiling beschreibt Patrick Chabal, warum es in Schwarzafrika keine Subjekte im europäischen Sinn gibt.1 Die Menschen verfügten in der präkolonialen Ära über ein stabiles moralisches und ethisches Setting, über starke Systeme gegenseitiger Hilfe und über einen hohen Grad an Mobilität, was es ihnen erlaubte, Herrschaft und Willkür stets nur bis zu einem gewissen Grad zu dulden und ansonsten mit den Füßen abzustimmen. Das Fehlen feudaler Macht hatte aber, so Chabal, einen ausbleibenden Emanzipationsprozess zur Folge, keine Revolutionen, keine politischen Institutionen.

Es lässt sich leicht folgern, dass der Subjektbegriff, wie er seit Descartes die europäische Philosophie prägte, nicht nachgerade eine afrikanische Erfindung sein konnte. Dieser Subjektbegriff war von vornherein Ausdruck eines europäischen Sonderwegs, der Gewalt, Schrift, Geld und Städte zur Grundlage hatte2 und in dem sich der Dritte Stand in der Krise des Feudalismus ein Selbst setzte, um diesem seine Definitionsgewalt zu entreißen und sich selbst ins Zentrum der zweiten Natur zu setzen. Diese Emanzipationsbestrebungen mündeten in Europa selbst in Subjektivationsprozesse, wie Foucault sie beschrieben hat: dialektische Prozesse von Ausschließung, Unterdrückung und Selbstsetzung, welche in die Konstitution des modernen Subjekts eingeflossen sind. Das „deutsche“ 18. Jahrhundert indes verlieh all dem eine neue Qualität, die Qualität der Aufklärung.

Foucaults historische Erzählung verortet den Zusammenbruch des Diskurses von Souveränität und das Entstehen einer Mikrologie der Macht am Ende des französischen und englischen 18. Jahrhunderts. Wir könnten in einer Analogie vorschlagen, dass das Ende des ‚deutschen‘ 18. Jahrhunderts (sofern in dieser Zeit von einem ‚Deutschland‘ die Rede sein kann) Stoff für eine Erzählung bietet, in der es um ein Krisenmanagement geht: um die ‚wissenschaftliche‘ Fabrikation einer neuen Repräsentation des Selbst und der Welt, und daraus wurden Alibis abgeleitet für die Herrschaft, die Ausbeutung und die epistemische Gewalt, die mit der Gründung der Kolonie und des Imperiums verbunden waren.3

Spätestens seit Kant ist der Begriff des Subjekts in eine Ideologie umgeschlagen, die das Subjekt der Erkenntnis in ein imaginäres Zentrum stellt, verwissenschaftlicht und von der sozialen Praxis ablöst. Der wissenschaftliche Diskurs war zugleich Herstellung von Definitionsmacht und Ausschließung. Das transzendentale Erkenntnissubjekt erhob einen universalen Anspruch und kolonisierte die Welt, nun auch von Seiten der Philosophie. Vor 30 Jahren hat Wolfgang Fritz Haug gefordert, diese Subjektideologie aufzugeben und „die Subjektivität aus dem Banne des großen SUBJEKTS zu befreien“.4 Die Zeiten sind darüber hinweg gegangen, das Subjekt und seine Transzendenz befinden sich in fortgeschrittener Auflösung. Heute sprechen europäische Philosophen von der „Subjektivität ohne Subjekte“ oder von der „Unhaltbarkeit des postmodernen Subjekts“.5 Immerhin sei die Subjektivität mehr als ein metaphysisches Relikt.6

Afrika brauchte keine Subjekte – keine Untertanen und kein transzendentales Erkenntnissubjekt, solange die kommunalen und reziproken Systeme funktionierten und solange die benachbarten Systeme offen waren für Migrant*innen. Der Bezug auf die (variablen, anpassbaren) Ahnen- und Verwandtschaftssysteme reichte aus, um den Individuen ihren Ort und ihre Zugehörigkeit zu sichern. Der Zusammenprall der Systeme und die Ankunft der Universalsubjekte in Afrika hat unendliches Leid verursacht. Es gibt, so könnten wir mit Barlett7 argumentieren, eine unausgesetzte Kette der Expansion der lateinischen Christenheit, von den Sachsenkriegen über die Kreuzzüge und die Unterwerfung der Kelten und der Slaven bis zur Reconquista und der Kolonisierung der Drei Kontinente. Eine Expansion mit spezifischen Rassismen – Subjekte gegen Nicht-Subjekte, Eroberer gegen „das Andere“.

Indes trifft heute die Krise des europäischen Subjekts auf eine neue Ausprägung und Blüte der Subjektivität, die ihre Wurzeln nicht zuletzt in Afrika haben dürfte.

Kinshasa

Ein Buch über Kinshasa, das mich schon beim ersten Durchblättern begeistert und verwirrt hat, ist das Buch von Filip de Boeck, das er zusammen mit der Fotografin Marie-Francoise Plissart veröffentlicht hat.8 Die europäische Rationale ist aufgelöst, es geht um Projektionen und Spiegelungen, um die Vielfalt eines ungesicherten Lebens. Um ein Kunstwerk von Menschen und aus Menschen gemacht und in dem Menschen sich zurechtfinden müssen. Es geht um Dimensionen der Existenz in sozialen Praktiken, die mit Worten allein nicht zu erfassen sind. Offenbar bedarf es einer erheblichen Anstrengung von dem, was als ästhetische Intelligenz bezeichnet werden könnte,9 verbunden mit Improvisationsvermögen und einer irren Empathie, um sich in dieser Stadt jenseits aller Unzulänglichkeiten zurechtzufinden. Natürlich geht es in allen Texten zu Kinshasa immer auch um Leid, Gewalt und Krankheit. Aber die Erzählungen de Boecks bleiben nicht an diesem Punkt stehen. Sie berichten über die „possibilities of the (im)possible“, über das Leben verstoßener Kinder, über Gedenken, Apokalypse und Tod, über das vielschichtige Leben einer Diamantenschmugglerin und natürlich über die Hexerei.

Die Verwirrung, die dieses Buch und ähnliche nicht nur bei mir, sondern auch in der etablierten Afrikanistik beziehungsweise in der Ethnologie gestiftet hat, wird in einer Rezension von Jane Guyer deutlich. Anscheinend habe die Frage, woher das Essen kommt, die Kleidung und die Unterkunft, nur mindere Bedeutung: „[Die Autoren] gehen von einer Bildsprache aus, der Kunstsprache und den sozialen Vermittlungen, in denen das gelebte Leben im städtischen ‚modernen‘ Afrika sich ausdrückt, in denen es kommuniziert und verstanden wird, geformt und bewahrt wird. Ihre Ziele ließen mich an moderne Kunst denken, viel eher als an analytische Wissenschaft.“ Die Ethnographie der Individualität der Kinois und die Spezifität Kinshasas wird in erster Linie auf Kosmologie und Verwandlung zentriert, dann auf Leben und Tod, dann auf die Form der Vermittlung zwischen diesen, wofür die verhexten Kinder exemplarisch sind. Die Beschreibungen, ihre Nähe zum Gegenstand, die Fallstudien und die wörtlichen Zitate werden ergänzt durch die Fotos. „Dass der Sinn der Symbole durch eine Realität des Imaginären eingeholt wurde, ist ein komplexes theoretisches Argument, aber die direkte Evidenz ist mächtig und ausführlich recherchiert, und die Autoren sind darauf bedacht, keine Teleologie zu implizieren.“10

Es kann nicht anders sein, als dass in Städten wie Kinshasa, Städten des Mangels mit einem überbordenden Mix von globalen kulturellen Einflüssen und der gegebenen Leichtigkeit globaler Kommunikation, Subjektivitäten sich neu zusammensetzen, in ganz anderer Form als in Europa seit den Zeiten der Ritter, Kaufleute und Philosophen. Die Semantik oder die Ordnung der Zeichen, denen das funktionierende metropolitane Subjekt nach wie vor nachjagt, vergeblich, und die raumzeitliche Selbstvergewisserung werden durch eine neue Realität des Imaginären überholt. Die städtische Welt von unten ist nicht nur durch eine Art der Erhaltungs-Auflösung von traditionellen Netzen und Verbindlichkeiten geprägt und von immer wieder neuen Erfindungen des Irrglaubens und der Hexerei, sondern zugleich vom Gebrauch modernster Kommunikationstechniken, von den Migrationen und von einem Denken in globalen Dimensionen, wovon vor allem die weltweite Ausbildung einer schwarzen Diaspora zeugt.11

Besuchern in Kinshasa fällt trotz eines in den letzten Jahren auflebenden Baubooms als erstes der Mangel an jeglicher Infrastruktur auf, und ein Schweizer Journalist lässt sich zu der Beschreibung hinreißen: „Wenn es eine Stadt gibt, die Sie garantiert nicht gesehen haben müssen, dann ist es die Hauptstadt des Kongo. Eine Geschichte über zehn Millionen Menschen, die versuchen, so etwas wie ein Leben zu führen“.12 Der Redaktor der NZZ am Sonntag sieht nur Schmutz, Gewalt und Lächerliches, und den Bildern von Helmut Wachter haften Ekel und Phantasien von Gewalt an, die noch vom „Herz der Finsternis“ geprägt sind. Das ist der europäische Standard. Die Europäer*innen bräuchten Empathie und Abstraktion von eigenen Lebensstil, und vielleicht ein Bewusstsein von der Krise ihres Subjektseins, um sich zurecht zu finden. Die Bilder Plissarts vermitteln eine Faszination, die der Sache in Ansätzen gerecht wird.

AbdouMaliq Simone hält sich beim Fehlen der materiellen Infrastruktur nicht lange auf, sondern er mischt sich mit einem hohen Maß an Empathie unter die Leute und untersucht, wie Gruppen von Menschen in Kinshasa ihre kleinen Ökonomien mit Formen „affektiver Spekulation“, mit changierenden Perspektiven und dem Offenhalten von Optionen organisieren. Simone schreibt über ein Gruppe Jugendlicher (die Bloods), die ihr Einkommen durch Mittlertätigkeiten auf dem Markt generiert, sowie über Gartenbaukooperativen am Ufer des Kongoflusses, um dann die Flüchtigkeit, die Offenheit, das Experimentelle auch bei einem der großen spekulativen Investitionsprojekte in Kinshasa, bei den Planungen zum Bau einer großen Gated Community, der Cité de la Fleuve, wiederzufinden. Simone beschreibt verblüffende Parallelen zwischen den kleinen Überlebensökonomien Kinshasas und den Spekulationen des globalen Finanzkapitals.

Wir wissen, dass wir in einer Finanzwelt leben, die auf einer ungeheuren Expansion des Kapitals basiert, welche sich von jeglicher materiellen Basis abgelöst hat. Geld wird gemacht in dem Ausmaß, in dem ein Objekt durch unterschiedliche Netzwerke, Verbindungen und Formen zirkulieren kann, unabhängig davon, ob dieses Objekt selbst wirklich mobil ist. Derivate sind ein Instrument dieser Zirkulation, und sie ermöglichen eine Verknüpfung von Phänomenen, welche mit ihrer Bedeutung, ihrem Gebrauch, ihrer Geschichte und früheren Bewertung nichts zu tun hat. Dinge werden verknüpft, nicht weil sie zusammenpassen, sondern um Bewegung und Volatilität zu erzeugen, welche die Bestandteile von Deals und Kontrakten in neue experimentelle Dimensionen treiben.

In Städten wie Kinshasa gibt es keine institutionellen Vermittlungen für all die Bruchstücke von Körpern, Erfahrungen, Wörtern, Objekten und Erinnerungen, die in der Stadt zirkulieren. Die Institutionen sind immer weniger in der Lage, Normen im Bereich der Praxis und der Planung zu setzen, welche die Akteure befähigen würden, auf eine realisierbare Zukunft hin zu arbeiten. Unter diesen Bedingungen wird das Alltagsleben auf intensive Weise experimentell, voll von Treffern und Fehlschlägen. Aber noch wichtiger ist: Diese Treffer und Fehlschläge sind genau das Material, mit dem spekuliert wird auf eine Aufwertung unter neuen Bedingungen – Akteure, Güter, Dienste, Positionen, Hoffnungen, Gefühle, Erkenntnisse.

Ich behaupte nicht, dass die Logiken einer ‚desorientierten‘, ‚improvisierten‘ oder ‚heruntergekommenen‘ Stadt denen des großen Finanzkapitals gleichen oder auch nur ähnlich sind. Was sie gemeinsam haben ist die Modalität der Spekulation, die von den normativen Erwartungen rationaler ökonomischer Entscheidungen abweicht. Beide nehmen sich einen Raum relativer Freiheit von den Normen der Governance, der Regulation und der Planung, und beides sind Kräfte, die in der Neugestaltung der heutigen afrikanischen Städte eine wichtige Rolle spielen. Diese Freiheit gründet sich nicht auf Alternativen oder Resilienz, sondern sie beruht allen auf der Fähigkeit, Unsicherheit in eine Ressource zu verwandeln, als fundamentales Feld von Entscheidungen und nicht als Feld von Abhängigkeiten, die einer rationalen Reduktion zugänglich wären.13

Vermutlich weiß Simone trotz seines Dementis, dass er mit diesen Absätzen einen unkonventionellen, überaus interessanten Beitrag zur Krisentheorie leistet. Das Spiel mit der Parallele von Derivaten, Imaginärem und Experimentellem, nichts ist gesichert, alles ist (im Rahmen der beschränkten Verhältnisse) offen, beschreibt einen „Spirit“ von Kinshasa, der mit der Volatilität des globalen Kapitals in unglaublicher Weise zu korrespondieren scheint. Indes ist Simone aber kein Krisentheoretiker, sondern er versteht sich als Aktivist an der Basis. Das Finanzkapital interessiert ihn nicht weiter. Es geht ihm vielmehr um konkrete soziale Praktiken und Formen der Selbstorganisation, und sein Hauptwerk, For the City Yet to Come,14 beschreibt Initiativen und Praktiken des Überlebens in Senegal, Südafrika, Kamerun und Sudan. Während ich also im Folgenden weiterhin noch über Subjektivität rede, spricht Simone über konkrete Erfahrungen.

AbdouMaliq Simone

Ich bin mir gar nicht sicher, ob nicht meine Beschäftigung mit den Schriften Simones einer falschen Verheißung folgt. In For the City Yet to Come bezeichnet er die afrikanischen Städte als „conjunction of seemingly endless possibilities of remaking“. Wie bei De Boeck stehen die Möglichkeiten im Vordergrund – eine Dimension, die Herbert Marcuse gefallen hätte. In seinem letzten Buch schreibt Simone einleitend über „cityness“, und auch hier wird die Offenheit der Situationen beschworen, die Kombination ganz unterschiedlicher Ökonomien des Überlebens „at the crossroads“, also mit dem ständigen Neuerfinden von Strategien und Zuschreibungen, die immer wieder überraschende Wendungen provozieren.15 Er begreift diese unablässige Suche, das ständige Lauern auf neue Chancen, als die eigentliche Infrastruktur der von ihm untersuchten Megacities, und dies trifft insbesondere auf die Stadt zu, die nichts hat außer Menschen, auf Kinshasa. Für Simone konstituiert die ständig changierende Selbsterfindung der Menschen, so wie die Mobilität der kleinen Entrepreneurs von unten eine Gegen-Globalität, die er mit einem instrumentellen Konzept von black urbanism zu begreifen sucht. Ich komme darauf zurück.

Als erstes habe ich bei Simone die Einsicht gefunden, dass Subjektivität, und besonders in Afrika, eine immer sehr vorläufige, volatile, dem Neuen durchaus aufgeschlossene Suche nach einer Veränderung der schlechten Verhältnisse ist. Sie hat nichts Systematisches, sie nimmt die zweite Natur als gegeben und arrangiert sich in ihr. Es gibt kein „unglückliches Bewusstsein“, Entfremdung ist ein körperlicher Zustand. Simone beschreibt die Suche nach Veränderung als „movements“ (und sein Begriff von movement hat mit dem der europäischen Sozialgeschichtsschreibung nichts gemein, seine movements findet er in den rostigen Kleinbussen und im Marktgeschehen der afrikanischen und südostasiatischen cities, aber auch in der globalen Mobilitat der Afrikaner). Ein bisschen erinnert mich seine Beschreibung an die Erwartung im jüdischen Schtetl, wo der Messias in jedem Moment und an jeder Ecke auftauchen konnte. In diese Subjektivität des Aufbruchs, des ständigen Aufbruchs, und besonders in die darin enthaltenen Unsicherheiten können wir uns aus den hiesigen, nach wie vor relativ gesicherten Verhältnissen heraus nicht hineinversetzen. Aber es ist genau eine solche Verbindung von existenzieller Verunsicherung, verzweifelter Suche und Aufbruch, die in den von Simone beschriebenen Zusammenhängen Neues in sich trägt.

Bei aller Faszination ist zunächst festzuhalten: Simone ist kein Sozialrevolutionär wie Raul Zibechi, der die Armutszonen der südamerikanischen Megacities als „territorios in resistencia“ beschreibt.16 Mit seiner Forderung, den Wert der sozialen Infrastruktur in den Megacieties zu erkennen und zu nutzen, steht er vielleicht in manchem Doug Saunders mit seinen arrival cities nicht fern,17 wenn auch weniger plakativ und nicht für den großen Büchermarkt bestimmt. Was Simone aber auszeichnet, ist, neben seiner Sympathie für die konkreten Menschen und ihre Formen der Selbstorganisation, ein Abstand zu allen etablierten, satten Strukturen und ein starker Sinn für die Potentialität kommender sozialer Entwicklungen. Das unterscheidet ihn von all den Buchhaltern der Kämpfe. Sein theoretischer Ansatz ist probatorisch und offen, er sympathisiert mit dem postkolonialen Dekonstruktivismus, aber er bleibt im Konkreten. Simone fühlt sich allererst als Aktivist, er beschreibt soziale Praktiken, und insofern schreibt er als Materialist: Er sieht die Welt, die er beschreibt, in Formen sozialer Praxis begründet. Simones großer Vorsprung: Er kennt sich aus in Kinshasa, Douala, Dakar, Abidjan, Kapstadt und Johannesburg wie auch in Jakarta, Bangkok und Phnom Penh. Mit seinem letzten Buch hat er hat sich nun der Aufgabe gewidmet, seine Positionen und Erfahrungen in einem textbook for undergraduate urbanists zusammenzufassen, und dies ist ein Buch, aus dem auch Interessierte wie ich selbst, die keine Urbanisten sind, so vieles lernen können.18

On Cityness

Das Einleitungskapitel des eben genannten Buchs könnte ein neuer Klassiker werden, so wie Georg Simmels Die Großstädte und das Geistesleben aus dem Jahre 1903,19 eine Schrift, die vor einigen Jahren bei Suhrkamp neu aufgelegt wurde. Beide Texte beschreiben den hektischen Wandel des städtischen Lebens vor dem Hintergrund einer – begrifflich noch nicht erfassbaren – Transformation des Kapitals. In On Citiness beschwört Simone die Vielfalt und Offenheit, die Unkontrollierbarkeit und die fehlende Planbarkeit des peripheren städtischen Lebens in Afrika wie in Südostasien – und er vermittelt hier die zweite Einsicht, die ich bei Simone gefunden habe: Es gibt an diesen Orten eine abgründige Unzugänglichkeit für Sozialtechnik – das, was Jane Guyer als no man’s land bezeichnet hat.20 Simone, wie auch de Boeck und einige andere Afrikanisten, schreiben diese Unzugänglichkeit geradezu herbei, und dies nicht lamentierend oder feindlich, sondern eher mit einer Art Schadenfreunde und als Feststellung – und zugleich als Forderung nach neuen Wegen der Autopoiese in diesen Regionen.

Simone listet fünf für ihn wichtige Manifestationen des Peripheren in diesen Städten auf:

  • als erstes den hohen Grad der Mobilität, als Praxis und als Aspiration, eben nicht nur unter dem Zwang der Verhältnisse, sondern auch auf der Suche nach Erfahrungen und Möglichkeiten;
  • als zweites das Verhältnis von den Städten des Globalen Südens zu denen des Nordens, als Experimentierfeld für das Verhältnis von Inputs und sozialen Reaktionen, wozu auch die Migration aus den afrikanischen Städten als „demand on European space“ gezählt wird (der Punkt scheint mir an dieser Stelle nicht wirklich gut strukturiert, aber wir werden unter dem Thema des Black Urbanism darauf zurückkommen);
  • drittens die relative Unsichtbarkeit der Quartiere der working poor in den Städten des Südens, als Orte sozialer Neuerfindung aus der Heterogenität, was Simone als key resource für das Überleben dieser Quartiere sieht (es geht hier nicht um die ganz peripheren Ansiedlungen, sondern um den Typ Dharavi:21 zentral, eingebunden, komplementär);
  • das vierte betrifft die Wege, auf denen besondere kollektive Erfahrungen in diesen Städten geschmiedet werden, indem disparate Erfahrungen zusammengebracht werden, um zu sehen, was dann damit passieren könnte. Als Beispiele werden genannt: blackness in Dakar, Brooklyn, London und Bangkok – blackness als „device of inter-urban connection“;
  • fünftens (und im Buch dann im Weiteren nicht mehr zum Thema gemacht) werden die Verbindungen und Rückbindungen von den Städten zum Land genannt.

Auch im vorliegenden Buch spielt Kinshasa eine herausragende Rolle. Im dritten Kapitel – „Intersections: What Can Urban Residents Do with Each Other?“ – geht es um diese Stadt ohne Infrastruktur, oder besser: um diese Stadt, in der die Bewohner selbst (nebst ihren Handys) die Infrastruktur sind. Es geht um die Offenheit für das, was geschehen könnte, um die Mobilität im Laufe des Tages auf der Suche nach Möglichkeiten, die Variabilität der „identities“, die stets Momentaufnahmen sind und nicht festzuschreiben, ein prekäres Rollenspiel auf der Suche nach alternativen Möglichkeiten, und ich würde allzu gern sagen: auf der Suche nach einer antagonistischen Subjektivität und Produktivität. Aber natürlich ist auch das nicht sicher.

Black Urbanism

Vor über zehn Jahren hat Simone einen Aufsatz „On the Worlding of African Cities“ veröffentlicht, der für seine weitere Arbeit als programmatisch gelten könnte: Afrikanische Städter*innen erfinden sich neu und schaffen ein vorläufiges, flüchtiges „worlding from below“, eine Gegenglobalität, geboren aus den verarmten, „insubstantiellen“, nicht werthaltigen sozialen Improvisationen und Migrationen. Es geht, vielleicht besser, auch ohne Heidegger. Aber daran wollen wir uns nicht aufhalten. Achille Mbembe hat von einem „small migrants cosmopolitanism“ gesprochen.22 Simone beschreibt, wie aus den Kolonialstädten „areas of remaking selves“ wurden, auf der Suche nach einem alternativen „Gebrauch“ der Urbanisierung, wobei der Spaltung und Ausplünderung sowie der Formierung kolonisierter Subjekte ein „countertrade“ entgegengesetzt wurde.

Im sechsten Kapitel von City Life greift Simone dieses Thema wieder auf, zusammengefasst unter der Überschrift „Black Urbanism“. Simone weiß sehr wohl, dass es einen solchen black urbanism nicht „gibt“ und dass es um etwas Probatorisches geht, um eine Sonde, ein „device as a way of raising questions and paying attention“. Mit diesem Instrument will er versuchen, die Mobilität und die weltweiten Diasporabildungen der schwarzen Migrantinnen dafür zu nutzen, allgemein in den Städten einen Blickwinkel von unten, aus der Sicht der Ausgegrenzten und aus der Sicht der Diaspora, einzunehmen. Er grenzt sich ab von der bipolaren Sichtweise Fanons, es geht ihm nicht um die revolutionäre Wendung des kolonisierten Subjekts, er sieht blackness nicht nur als produzierte Realität, in der Individuen ausgeschlossen wurden, sondern die Exklusion impliziert zugleich die Existenz nicht dokumentierter Welten von begrenzter Sichtbarkeit, Gespenster in der Modernität der Stadt, oder sie setzt radikal andere Wege des Lebens in der Stadt. Mit anderen Worten: Exklusion verweist nicht auf eine intrinsische Leere im Leben des Schwarzen – ein Leben, das von Unterdrückung bestimmt wäre. Sondern es verweist auf die Möglichkeit von etwas Anderem, und dies könnte schon seit langen umgehen, oder auch nicht. „Blackness als Instrument des black urbanism versucht, durch die Verstrickungen von Möglichkeiten und Prekarität im städtischen Leben zu navigieren. Dabei können dieselben Bedingungen,die auf den Zusammenbruch von Zivilgesellschaft und Justiz deuten, zugleich die Bedingungen sein, in denen sich neue Formen des urbanen Lebens entwickeln.“23

Solche neuen Formen städtischen Lebens können, so Simone, nur selbstorganisiert sein. Dabei geht es nicht um „Integration“ in die globalen Kontexte der Produktion, und auch nicht um die klassischen Kontexte der Produktion oder Kolonisation von Subjekten, sondern um eine immer wieder neu zu erfindende Umgehung der dominanten „histories, frameworks, and policies“, und dies betrifft „die unentwirrbare Erfahrung der Möglichkeiten und der Prekarität, die derzeit die Orte und Aktionen der Mehrheit in den Städten der Welt auszumachen scheint.“24

Das wäre der dritte Punkt, den ich bei Simone lerne: Angesichts der Tatsache, dass es eine Vielzahl von Städten gibt, in denen ein Weg der kapitalistischen Entwicklung und konstitutiven Integration in den nächsten Jahrzehnten nicht denkbar ist, ist es wichtig, festzuhalten, dass deren Bewohner trotzdem ein Leben erfinden, das sie selbst nicht primär als Negation auffassen, auch nicht als Negation eines globalen Kapitalverhältnisses. Wenn dieses, ihr Leben im Kapitalismus keinen Wert hat, dann ist es positiver Nicht-Wert. Marx konnte diesen Nicht-Wert in den Grundrissen (später hat er davon nicht mehr geschrieben) nur als Außerhalb des Kapitalverhältnisses begreifen – eine Position, die in Anbetracht eines wirklich globalen Kapitalismus heute nicht mehr haltbar ist. Es handelt sich vielleicht, um den Begriff Derridas zu wenden, um eine prozessierende „différance“.

Ich komme zurück auf das Motto am Anfang: Fanons Abschied von Europa. Für Fanon bildeten die afrikanischen Bauern die antikoloniale revolutionäre Klasse, während er den städtischen Armutsschichten eher ein changierendes Verhalten zuschrieb. Diese changierenden Schichten sind inzwischen aber auch in Afrika in der Mehrheit. Abschied von Europa heißt nicht nur Abschied vom europäischen Subjektbegriff und den Institutionen, sondern auch Abschied von den europäischen Paradigmen der Revolutionen. Die soziale Revolution sieht heute anders aus, sie hat mit Simones „experience of possibility and precariousness“ mehr zu tun als mit den Aufständen vom europäischen Typ des Age of Revolutions. Dem globalen Kapital steht heute die Différance als Autopoiese des Nicht-Werts gegenüber, eine Selbsterfindung, die in vielen Städten des Südens in unterschiedlicher Weise in Gange ist und nach deren Konjunktionen Simones black urbanism fragt – ein Instrument der Untersuchung, das uns zweifellos weiter beschäftigen wird. Raul Zibechi ist bei seinen Untersuchungen in Lateinamerika auf ähnliche Fragen gestoßen, die Fragen nach der Auskoppelung des Sozialen aus dem kapitalistischen Kontext, und er beantwortet diese Fragen mit einem gewissen revolutionären Esprit, wie er in jener Region der Welt noch lebendig ist. Zibechi sieht die städtische Selbstorganisation stärker in lokalen und indigenen Strukturen verwurzelt.25 Wir haben das Buch von Asef Bayat, Leben als Politik,26 herausgegeben, weil der Begriff des „quiet encroachment“ vielleicht ein Schlüsselbegriff für die Autopoiese des Sozialen ist, wiewohl Bayats Beschreibungen, die sich auf den Iran und Ägypten beziehen, stark von soziologischen Kategorien geprägt sind. Aber sie beziehen sich eng auf soziale Praktiken. Simone hingegen erzählt Geschichten, er taucht ein in die Welt der city dwellers, will keine Begriffe prägen, sondern er benutzt sie experimentell und prekär, wie übrigens auch Zibechi, und wie es der Welt entspricht, die sie beide beschreiben. Neue Fragen, wenig Klarheit, aber eine klare Parteilichkeit auf Seiten der Menschen, die ihr Glück im Ungewissen suchen (müssen), auf Seiten der sozialen Autopoiese und der Migrationen.

Subjektivität

Ich komme zurück auf die Krise des postmodernen Subjekts, welche zugleich eine Krise der Foucaultschen Subjektivation ist. Das diskursiv geprägte Subjekt ist doch nur ein Erkenntnissubjekt anderen Typs. Ganz sicher hat Foucault, trotz seines Aufenthalts in Tunesien, den Kolonialismus und Rassismus als Konstitutionselemente der metropolitanen Subjekte unterschätzt, wie auch die Bedeutung des Militarismus für die Prägungen des weißen Mannes – anders als Derrida, der aus den Verhältnissen des Pied Noir zu anderen Folgerungen kam.27

Die Diskussion über Subjektivität hierzulande bezieht sich meist auf den Subjekttyp der Anpassung und Selbstoptimierung vom Typ McKinsey, gewissermaßen auf jenen abstrakten kapitalistischen Subjekttypus, der die Subjektivation vollendet und das Verwertungsdiktat als Selbstverwertung verinnerlicht hat. Aber hinter aller Geschäftigkeit dieses Typus lauert eine existenzielle Verunsicherung, die nicht nur ökonomischer Natur ist. Ein Psychologe, Klaus-Jürgen Bruder, schreibt dazu:

Die Situation des Subjekts heute ist durch die Singularität des Augenblicks bestimmt, durch isolierte, punktuelle Augenblicke, die nicht in einem eindeutigen Zusammenhang mit vergangenen oder zukünftigen Ereignissen stehen. Der kommende Augenblick ist ungewiß und undeterminiert. Das Subjekt wird mit der Kontingenz konfrontiert. Kein Blick auf Vergangenes oder Zukünftiges vermag Sicherheit (eines Sinnes) und Handlungsorientierung zu gewähren. Im Zeitalter der Elektronik haben wir es nicht mehr mit Dingen sondern mit Immaterialien zu tun. Bei diesen kann jene scharfe Trennungslinie zwischen Geist und Materie, Subjekt und Objekt nicht mehr gezogen werden, durch die sich das neuzeitliche Subjekt konstituierte. Das souveräne Subjekt der Aufklärung gestaltete ihm Entgegen-stehendes (Ob-jektives). Der Raum dieser Gestaltung und Selbst-Gestaltung war das raum-zeitliche Kontinuum. Übersichtlichkeit und Vorhersehbarkeit der Welt der Moderne wurde durch verschiedene Strategien zur Eliminierung der Kontingenz erreicht. Mit dem Verlust dieser Stützen scheint das rational verfahrende neuzeitliche Subjekt kaum noch handlungsfähig. Deshalb die ‚Krise des Subjekts‘. Das Subjekt ist nicht in der Lage, der Prozeß- und Ereignishaftigkeit unserer Welt zu begegnen, die veränderte Welt hoher Komplexität zu reflektieren, weil es an das neuzeitliche Raum-Zeit-Kontinuum gebunden ist. Das Paradoxe der Situation besteht darin, daß die Konzepte des neuzeitlichen Raum-Zeit-Kontinuums immer noch handlungsleitend sind.28

Die Krise des Subjekts, über die sich die Philosophen und die Psychologen unterhalten können, wird nun allerdings überholt durch diesen neuen Antagonismus, der aber auch die Möglichkeit der Doppeldeutigkeit in sich trägt, zwischen werthaltiger Subjektivität und der Ausbildung einer Gegenwelt, wie er in den afrikanischen Städten, in der Arabellion, in El Alto oder in Bangkok sich ausbildet und wie er sich in den Selbstorganisationen der Empörten auch in der Peripherie Europas ausbilden könnte. Ein alternativer Kosmopolitanismus?29 Vielleicht ist der Unterschied zwischen den metropolitanen Krisensubjekten und der subjektlosen Subjektivität der Menschen in Kinshasa doch nicht so groß wie es auf den ersten Blick scheint? Subjektivität, die auf beiden Seiten aus einem patchwork von Imaginationen und Möglichkeiten besteht, die sich in ihren Praktiken und Ressourcen zum Teil auf gemeinsame Medien bezieht und die zugleich auf beiden Seiten eine elementare Verunsicherung erlebt, welche durch Informationen und Intuitionen eher noch gesteigert wird? Allerdings steht auf der einen Seite das Ziel einer Selbstoptimierung, die sich im Kreise der Ordnungen dreht, und auf der anderen Seite steht ein epochaler sozialer Aufbruch.

Ganz sicher braucht es keine philosophische Anthropologie, um über die Krise des Subjekts zu reden, die eine historische Dimension und vielfältige regionale Prägungen hat und die auf sozialen Praktiken und garantiert nicht auf ontologische Bestimmungen beruht. Der Mensch ist nicht erste, sondern dritte Natur, und er hat zur zweiten Natur ein zunehmend ungesichertes Verhältnis, weil er sie schon längst nicht mehr als Produkt seiner Arbeit begreifen kann. Wäre es sinnvoll, unterschiedliche Prägungen von Subjektivität auf einer Matrix abzubilden, um sie vergleichbar zu machen, wie Boris Zizek es versucht hat?30 In diese Matrix ordnet Zizek Formationen eines vormodernen Subjekts, eines missionarischen frühmodernen Subjekts (dessen Konstitutionsbedingungen bis in die heutige Zeit fortwirken sollen) und eines romantischen Subjekts mit dezentriertem Weltbezug ein. Man muss das nicht für wahr nehmen, und man sollte Zizek nicht in der Auffassung folgen, dass die Elemente seiner Matrix ontologisch begründet seien oder dass es sich um universale Subjekttypen handele. Vielleicht aber könnten einige Elemente dieser Matrix (oder andere) von Nutzen sein, um im Nachdenken über die Differenz zwischen europäischer, um Ordnung ringender, werthaltiger Subjektivität und afrikanischer, nicht-werthaltiger Subjektivität einen Schritt weiter zu kommen? Vielleicht lassen sich unterschiedliche Konstitutionsformen von Subjektivität beschreiben, im Sinne historisch und regional unterschiedlicher Konstitutionen, aber vielleicht mit einem je globalen Weltbezug?

Was ich hier nicht leisten kann ist eine Untersuchung des Verhältnisses von Simone zu den postkolonialen Dekonstruktivist*innen, insbesondere zu Spivak und zu Da Silva, auf die sich Simone an einer Stelle bezieht, auf die ich gleich noch eingehen möchte. Da Silva spricht von einem „subject of raciality“31 – vielleicht induziert der globale Diskurs von Rasse und Kultur ein neues Verständnis der Dialektik der Subjektbildung, eine neue und globale Version von dem, was Fanon als „kolonisiertes Subjekt“ bezeichnet hat? Da Silvas Begriff von Africanity könnte darauf hindeuten: Die Afrikaner und die enteigneten Schwarzen in der Diaspora existieren in den sozialen Formationen der globalen Welt nur in soweit, als sie kämpfen.32

Die beste Stelle bei Simone, die auch mit Da Silva zu tun hat, habe ich mir für den Schluss aufgespart. Simones Paraphrase liest sich etwas leichter als Da Silvas Text selbst, und Simone macht hier nun kompromisslos klar, dass es ihm um eine von vornherein antagonistische Subjektbildung geht, die auf kollektiven Praktiken beruht und die primär im globalen Kontext steht. Diese Auffassung enthält nicht nur eine Antwort auf Zizeks Ansatz. Sie geht über die Beschreibung einer Subjektivität ohne Subjekt weit hinaus, weil sie eine Selbstkonstitution im Prozess der Kämpfe beschreibt. Im Zusammenhang mit der Selbst-Organisation schreibt Simone:

Dieser Prozess der Selbstorganisation nimmt eine besondere Form an. Da blackness auf eine Ansammlung von Material verweist, dessen Zusammenhang keine stabilen historischen Vorläufer hat und keine empirische Grundlage, kann sie sich nicht als korporative Einheit oder als definiertes politisches Subjekt begreifen. Wie Da Silva ausführt, ist das schwarze Subjekt weder eine Aktualisierung noch ein Ausdruck einer afrikanischen Wesenheit, sondern es ist eine moderne politische Figur, ein existierendes Ding, zusammengesetzt mit den Werkzeugen des Wissens, die den Ort seiner Entstehung geprägt haben. Dieses Subjekt kann nicht als kohärente Entität sprechen, die sich im Einklang mit seiner Umgebung befindet. Sondern die wohlerprobten philosophischen Begründungen der postkolonialen Theorie haben gezeigt, dass das schwarze Subjekt nicht als ‚selbstbewusstes‘ ins Leben trat, nicht als transparentes Ding, das erkennen konnte, dass alles außerhalb seiner selbst schon Manifestation seiner Anstrengungen und seines Lebens waren. Vielmehr entsteht das schwarze Subjekt als eine externe und räumlich verortete Entität, Produkt der globalen Beziehungen, Ausdruck der universalen Vernunft und der Regulationen des Rassismus und der Kulturzuschreibungen. Wenn Selbstorganisation der einzige Weg ist, auf dem schwarzes Bewusstsein sich artikulieren kann, dann kann blackness nicht so tun, als ob die, die ausgeschlossen waren, nun eingeschlossen werden könnten im Modus eines transparenten und in sich geschlossenen Selbst. Sondern das, was black urbanism ausmacht als Möglichkeit, über Städte nachzudenken, kommt zustande, indem disparate Erfahrungen der Schwarzen und Kämpfe gegen die Unterdrückung in ihrer unterschiedlichen Form, aus den unterschiedlichen Orten und historischen Perioden, verwoben und repräsentiert werden. Dieses Verweben wird zur gemeinsamen materiellen Bedingung. Es gibt keinen Bezug auf irgend eine authentische Quelle des Ursprungs, sondern nur den Verweis auf das weitere Feld der Kämpfe, die Menschen afrikanischen Ursprungs geführt haben, und die eingebracht werden in ein erfundenes Universum. In diesem Universum schafft die Praxis der Selbstorganisation ‚ihre Welt‘ und die Begründung ihrer Existenz.33

All dies könnte, in postkolonialer Modifikation, dann doch eine Aktualisierung des Fanon’schen Subjekts sein. Subjekt-Sein ist ein Kampfterrain und ein Resultat von Kämpfen.

Ostern 2013

—-

1 Patrick Chabal, Africa: The Politics of Suffering and Smiling, London 2009, S. 88 ff.

2 Robert Barlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt, Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350 (engl. Orig.: The Making of Europe, London 1993), München 1996, insbesondere das letzte Kapitel

3 Gayatri C. Spivak, A Critique of Postcolonial Reason, Cambridge 1999, S. 7.

4 Rede auf der Eröffnungssitzung des Dritten Internationalen Kongresses für Kritische Psychologie in Marburg am 11. Mai 1984. In überarbeiteter Form veröffentlicht in: Elemente einer Theorie des Ideologischen (Argument-Sonderband 203), Hamburg 1993, S. 116–35.

5 Siehe [http://www.hagenbuechle.ch/pdf/subjekttotal.pdf]; [http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/bruder_aut.htm].

6 Siehe [http://www.michael-pauen.de/Subjekt.rtf].

7 Siehe Anm. 2.

8 Filip de Boeck / Marie-Francoise Plissart, Kinshasa: Tales of the Invisible City, Tervuren / Ludion 2006.

9 Das ist ein kunstpädagogischer Begriff, der von Gert Selle aus Oldenburg geprägt wurde. Er erscheint mir hier passend, ich habe keinen besseren.

10 Jane I. Guyer, Describing Urban „No Man’s Land“ in Africa, in: Africa, 81 (2011), 3, S. 474–492.

11 Hierzu das sechste Kapitel, „Cosmopolitan Cities“, in Gart Myers, African Cities, London 2011, S. 164 ff. Eine schöne Beschreibung des Kleinhandels zwischen Kinshasa und Guangzhou findet sich im fünfzehnten Kapitels des Buches von David van Reybrouck: Kongo. Eine Geschichte, Berlin 2012.

12 David Singer, NZZ Magazin, 36 (2011).

13AbdulMaliq Simone, Deals with Imaginaries and Perspectives: Reworking Urban Economies in Kinshasa, in: Social Dynamics, 37 (2011), 1, S. 111–124, abrufbar unter: [http://www.abdoumaliqsimone.com/].

14 Ders., For the City yet to Come. Changing African Life in Four Cities, Durham 2004. Dieses Buch hat in der afrikanistischen Fachliteratur einige Aufmerksamkeit hervorgerufen; vgl. die Bemerkungen bei Myers, African Cities (Anm. 11), die von großem Respekt zeugen, wie auch die Rezension von Guyer, Describing (wie Anm. 8).

15Abdoumaliq Simone, City Life from Jakarta to Dakar: Movements at the Crossroads, New York / London 2010.

16 Raul Zibechi, Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas, Berlin 2011.

17 Doug Saunders, Arrival City: How the Largest Migration in History is Shaping Our World, London 2011.

18 Simone, City Life (wie Anm. 15).

19 Jane Guyer meint, dass eigentlich Simmel der gemeinsame Pate jener neuen Afrikanistik sei, wie sie unter anderen von De Boeck, Simone und Achille Mbembe repräsentiert wird.

20 Siehe Anm. 10.

21 Vgl. Kalpana Sharma, Rediscovering Dharavi: Stories from Asia’s Largest Slum, New Delhi 2000.

22 Beide Aufsätze sind abgedruckt in: Peter Geschiere / Birgit Meyer / Peter Pels (Hg.), Readings in Modernity in Africa, London 2008.

23 Simone, City Life (wie Anm. 13), S. 279 ff.

24 Ebd., S. 332.

25 Zibechi, Territorien (wie Anm. 14); ders., Bolivien. Die Zersplitterung der Macht, Hamburg 2008.

26 Asef Bayat, Leben als Politik. Wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern, Berlin 2012.

27 Eine sehr gute Darstellung der Einflüsse von Foucault und Derrida auf den Postkolonialismus findet sich bei Robert J. C. Young, Postcolonialism: A Historical Introduction, Malden 2001, Kap. 27 und 28.

29 Diese Bezeichnung kommt von Shail Mayram: The Other Global City, New York 2009.

30 Siehe [http://www.izpp.de/fileadmin/user_upload/Ausgabe_4_1-2011/02_1-2011_Zizek_Subjektivitaet.pdf9].

31 Denise Ferreira Da Silva, Bahia PeloNegro: Can the Subaltern (Subject of Raciality) Speak, in: Ethnicities, 5 (2005), S. 323–342.

32 Bei Spivak liegen die Dinge vertrackter, denn sie unterscheidet scharf zwischen (post-)kolonialem Subjekt und Subalternität, und sie hat noch einen „native informant“ dazwischen geschaltet.

33 Simone, City Life (wie Anm. 13), S. 296 f.

 

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.