04. Januar 2014 · Kommentare deaktiviert für Migration 19. Jh. in die USA · Kategorien: Hintergrund · Tags:

Ein Land aus Gold

Unbekannte Geschichten aus der Frühzeit der Immigration in die Neue Welt.

von Birgit Schmid

Derazhnia ist ein kleiner Ort in der heutigen Westukraine, zwischen Kiew, Lemberg und Odessa gelegen. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts liegt er direkt an der während jener Jahre erbauten Eisenbahnstrecke, mit der aus dem kleinen Marktflecken ein Knotenpunkt des Handels geworden ist, der seither viele Menschen anzog. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts leben fast 10 000 Menschen in Derazhnia, die meisten davon sind Juden.

Einer von ihnen ist Izaak Peisoty, der seine Kinder dort nicht mehr halten kann. Esther, die Älteste, ist schon einmal alleine nach Odessa gereist, wo Familienangehörige leben. Nach ihrer Rückkehr gab es neue Begriffe in ihrem Wortschatz, Worte wie »Veränderung«, »Evo­lution« und »Revolution«, und Esther hatte zum ersten Mal in ihrem Leben Straßenlaternen gesehen. Dann setzte sie durch, dass sie die Familie verlassen und auswandern durfte. Und nun wird auch eine der Jüngeren, Rosa, unruhig, denn Esther schreibt ihr Briefe aus New York. Dort hat sie einen Job in der Textilindustrie gefunden. Es gebe jede Menge Arbeit, schreibt Esther, und damit jede Menge Möglichkeiten für eine geschickte junge Frau, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und zu sparen.

Außerdem ist in Derazhnia ein Mann aufgetaucht, der Schiffspassagen verkauft für die großen Schifffahrtslinien Cunard, Red Star und White Star. Die Namen der Linien, so wird sich Rosa später in ihrer Autobiographie erinnern, »sind Namen, die jeder in unserem Ort kennt. Es spricht beredt über Vermögen, die arme Emigranten in Amerika erworben haben. Bauern aus unserer Umgebung haben diese Worte in sich hineingesaugt und genügend Rubel zusammengekratzt, um ihre Überfahrt bezahlen zu können. Sie wollten dort nach Gold graben, aber später sind sie zurückgekehrt und haben gesagt, dass das, was sie dort in der Erde gefunden hätten, nur schwarze Kohle gewesen sei.«

Doch die Agenten der Reedereien, die bis in die entlegensten Dörfer kommen, sprechen weiter von Amerika. »Der Name von George Washington war uns bekannt«, schreibt Rosa, »und der von Abraham Lincoln, der die Schwarzen befreit hat.« Und: »Was für ein wunderbares Land ist Amerika, das uns alle willkommen heißt, die, wie meine Schwester, in einer freien Welt leben wollen! Jeder kann dort seinen Lebensunterhalt verdienen. Für uns in Derazhnia ist Amerika das Goldene Mdeeni, das Land aus Gold. Wir denken immer daran, wenn wir Israel Telpner sehen, den Sohn des Ladenbesitzers, der einige Monate in New York gearbeitet hat und mit einem schwarzen Hut und goldenen Zähnen zurückgekehrt ist, die ersten, die wir jemals sahen, und die er mit Stolz präsentierte.«

Tore zum verheißenen Land

Seit die Überseeschiffe mit Dampf betrieben werden und die Reise zwischen den Kontinenten nur noch zwei, höchstens drei Wochen lang dauert, ist die amerikanische Ostküste, das Land der Verheißung, auch für die russischen Bauern und für die Armen aus den osteuropäischen und russischen Stetln in greifbare Nähe gerückt. Das Geld für das Ticket kann man sich leihen und später zurückerstatten, wenn man in Amerika einen Job gefunden hat. Und Esther schreibt Rosa weiterhin regel­mäßig.

Welche Perspektive hat Rosa in Derazhnia? Sie könnte die Ehefrau eines jüdischen, älteren Mannes werden können, der den langjährigen Militärdienst bereits hinter sich hat, in den die jüdischen Männer hineingezwungen werden. Sie wäre dann, den jüdischen Gebräuchen gemäß, nicht nur für den Haushalt zuständig, sondern auch dafür, den Unterhalt der gesamten Familie zu sichern, während sich ihr Mann den religiösen Studien zu widmen hätte. Doch an solch einem Leben hat Rosa Peisoty kein Interesse.

Im Oktober 1913 gibt Izaak Peisoty dem Drängen auch dieser Tochter nach. Es ist ein grauer Tag, wie sie sich später erinnert, und der halbe Ort läuft zusammen, als der Vater mit ihr den Zug besteigt, um sie durch die Ukraine und Polen bis an die deutsche Grenze zu begleiten. Rosa Peisoty lässt eine weinende Mutter und jede Menge junger Leute zurück, die sie beneiden. Im Zug diskutiert man noch über den Fall Mendel Beiliss, ein Jude aus Kiew, dem damals gerade wegen angeblichen Ritualmords an einem christlichen Jungen der Prozess gemacht wird, der Vater liest darüber aus einer Zeitung vor.

Das ist ein letztes Gemahnen an den Anti­semitismus, der in Russland und Osteuropa grassiert und für viele Juden und Jüdinnen Anlass ist, das Land zu verlassen. Auch Izaak Peisoty wird im Jahr 1919, während des Bürgerkriegs zwischen der Roten Armee, weißen antibolsewischistischen Kräften und nationalistischen Truppenverbänden, einem Überfall zum Opfer fallen: »Der Terror erreicht meine Heimatstadt«, schreibt Rosa in ihren Erinnerungen. »›General Petluras ›Armee‹ von Hooligans, sowohl antibolschewistisch als auch antisemitisch, ergießt sich eines Nachts wie eine Rotte Ratten über Derazhnia. Es gibt schwere Fußtritte auf der Terrasse meines Elternhauses, jemand poltert gegen die Tür. Vater öffnet, um zu sehen, wer die Eindringlinge sind, und um mit ihnen zu reden, wenn es nötig ist, wie er es schon oft in solchen Situationen gemacht hat. Mutter ist direkt hinter ihm. Unbewaffnet wird er niedergeschossen, bevor er Gelegenheit hat, etwas zu sagen oder eine Hand zu erheben. Er starb, wie er gelebt hatte, ohne Angst.«

In Antwerpen besteigt Rosa die »Finnland«, ein Schiff der Red-Star-Linie. »Elf Tage auf See – lange Tage«, erinnert sie sich, »wenige Schiffe fahren vorbei, meistens sieht man nur den unendlichen Ozean. Es ist ein Ereignis, wenn Möwen auf uns herunterstoßen, während wir an der Reling lehnen. Werden wir New York jemals erreichen? Aber an den Abenden fallen die Stimmen in die russischen und ukrainischen Lieder ein, sie helfen mir, meine ­Unruhe zu ertragen.«

Im September 2013, also fast auf den Tag genau 100 Jahre, nachdem Rosa Peisoty von hier aus abgereist ist, eröffnet die Stadt Antwerpen in den ehemaligen Räumen der Ree­derei Star Line in der Montevideo-Straße im alten Hafenviertel ein Museum, in dem von nun an an Menschen wie sie erinnert werden soll. Elf Jahre hat es gedauert, von der ersten Idee im Jahr im Jahr 1992, bis zur Eröffnung der fertigen Ausstellungsräume am 28. September.

»Wenn die Wände des Red-Star-Museums sprechen könnten«, schreiben die Pressesprecher des Museums, »würden sie von hohen Erwartungen sprechen und von tiefen Enttäuschungen, von Adrenalin und von schlaflosen Nächten, von Kindern, die zu ihren Eltern reisten, und von Familien, die ihre Kinder zurückließen.«

Die Alltagsgeschichte von Namenlosen, Migrationsgeschichte generell, gerät immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses von Historikern, Sozial- und Kulturwissenschaftlern. In Antwerpen betont man, dass allein von dieser Stadt aus rund zwei Millionen Menschen in die Neue Welt emigriert seien. Die meisten von ihnen waren Juden oder Jüdinnen wie Rosa Peisoty, die ihren Namen in den USA in Rosa Pesotta umwandeln sollte.

Es gab weitere Häfen dieser Art, Bremverhaven, Hamburg oder Southhampton. Viele derjenigen, die von Antwerpen aus reisten, hatten schon in Odessa ein Schiff bestiegen, das sie zuerst in diese Stadt brachte. Oder sie waren wie Pesotta auf dem Landweg gekommen, waren tagelang mit der Eisenbahn gereist. »Abgerissen und erschöpft«, so beschreibt es die Journalistin Marion Schmitz-Reiners anlässlich der Eröffnung des Museums, »kamen die Auswanderer nach tagelanger Zugfahrt in Waggons vierter Klasse in Antwerpen an. Dort wurden sie von Reedereiagenten zunächst in billigen Hotels untergebracht, wo sie auf den Tag der Abfahrt warteten. Bevor sie an Bord der Ozeandampfer gehen durften, wurden sie durch die drei Abfertigungshallen der Reederei am Rijnkaai geschleust.«

Danach kam die tage- oder wochenlange Überfahrt, deren Bedingungen man sich kaum schlimm genug vorstellen kann. Noch Jahrzehnte später, angesichts des Nationalsozialismus und der fliehenden Menschenmassen, die gen Übersee drängten, waren die Verhältnisse wenig komfortabel: »Am unangenehmsten«, erinnert sich der Anthropologe Claude Lévi-Strauss an seine Überfahrt nach Amerika im Jahr 1941, »war jedoch, was man beim Militär die ›Körperpflege‹ nannte. An der Reling entlang, Backbord für die Männer und Steuerbord für die Frauen, hatte die Schiffsmannschaft zwei Reihen von Bretterbuden errichtet, ohne Luft und Licht; in der einen befanden sich einige Duschhähne, aus denen nur morgens Wasser kam; die andere, in der sich eine lange, ins Meer mündende Rinne aus grob mit Zink verkleidetem Holz befand, diente einem leicht zu erratenden Zweck.«

Lévi-Strauss berichtet von ungelüfteten Baracken, dem Gestank von Urin, Seeluft und Erbrochenem, von Verhältnissen, die bereits die Teilnehmer der großen Auswandererwelle ertragen mussten, die Russland und Europa Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts verlassen hatten. Doch irgendwann tauchte die New Yorker Freiheitsstatue vor ihren Augen auf. Die auf ihrem Sockel eingravierten Worte stammen, das hat nicht nur Rosa Peisoty nachhaltig beeindruckt, von Emma Lazarus, einer jüdischen Dichterin, die jedoch bereits in den USA geboren worden war.

Die Fackel der Freiheit

Das dem Schutz aller Verbannten gewidmete Gedicht »The New Colossus«, das Lazarus im Jahr 1883 verfasst hatte, und die Statue wurden zu einem Topos der Emigrantenliteratur, bisweilen gar zu einem Mythos. So erinnert sich die berühmte Anarchistin Emma Goldman, auch sie war – lange vor Rose Peisoty – gemeinsam mit ihrer Schwester Helena aus der russischen Provinz nach Amerika emigriert, in ihrer Autobiographie an ihre Ankunft in New York. »Der letzte Tag unserer Reise«, heißt es dort, »ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Alle waren an Deck. Helena und ich standen aneinandergedrängt und waren hingerissen von dem Anblick des Hafens und der Freiheitsstatue, die plötzlich aus dem Nebel auftauchte. Ja, das war sie, das Symbol der Hoffnung, der Freiheit und der Möglichkeiten für jedermann! Ihre Fackel leuchtete, wies uns den Weg in das freie Land, das Asyl der Unterdrückten aller Länder.«

Ob Emma Goldman den Mythos von der Glück versprechenden Freiheitsstatue bemüht hat, um ihn mit der enormen Enttäuschung zu kontrastieren, die sie bald darauf erleben sollte, oder ob sie sich einfach getäuscht hat – Tatsache ist, dass ihre Erinnerung ihr einen Streich gespielt haben muss. Denn sie gibt an, im Dezember 1885 von St. Petersburg nach Hamburg gereist zu sein und sich dort auf der »Elbe« für die Überfahrt nach New York eingeschifft zu haben. Emma Goldman muss also einige Wochen später, im Januar oder im Februar 1886, in New York eingetroffen sein. Zu diesem Zeitpunkt aber hätte sie von der Freiheitsstatue nur den Sockel sehen können, die Statue selbst wurde erst im Spätsommer desselben Jahres fertiggestellt und am 28. Oktober eingeweiht.

Und nicht für alle Neuankömmlinge, die sie dann bereits erblickt hatten, lösten sich die an sie geknüpften Hoffnungen und Träume auch ein. Denn bevor sie amerikanischen Boden betreten durften, mussten die Einwanderer und Einwandererinnen die vorgelagerte Insel Ellis Island passieren, wo sie auf ihren Gesundheitszustand und auf ihre Arbeitsfähigkeit hin überprüft wurden.

Die Desinfektion von Gepäck und Menschen, das Aussortieren von Alten, Kranken und Schwachen noch in Antwerpen hatten der Vorbereitung dieser Überprüfung auf Ellis Island gedient. Denn hier wurden sie noch einmal gemustert. Schwangere, die nicht nachweisen konnten, dass sie verheiratet waren, oder die allein reisten, und Menschen, die etwa an einer zu dieser Zeit weit verbreiteten Augenkrankheit litten, wurden unbarmherzig wieder zurückgeschickt, sie mussten die lange Reise über den Atlantik noch einmal antreten. Manche von ihnen kamen so ein zweites Mal nach Antwerpen, manche blieben einfach in der Stadt und versuchten, sich hier durchzuschlagen. Noch heute ist Antwerpen eines der Zentren des orthodoxen Judentums in Europa.

Rosa Peisoty alias Rose Pesotta, wie sie von nun an heißt, hat jedoch Glück, sie kann passieren und ihre Schwester Esther in die Arme schließen. Später wird sie, wie die meisten jungen Frauen aus Osteuropa und Russland, Textilarbeiterin in einer der zahlreichen Fab­riken, die in jenen Jahren aus dem Boden schießen. Doch gleich ihrer kämpferischen Schwester, die an den großen Ausständen der Textilarbeiter und -arbeiterinnen der Jahre 1909 und 1910 teilgenommen hat, findet sie sich nicht mit den Arbeitsbedingungen ab, die aufgrund des stetigen Nachschubs an Menschenmaterial an der amerikanischen Ostküste herrschen.

Das sogenannte Sweatshop-System, das sich in Windeseile an der amerikanischen Ostküste und auch in einigen europäischen Städten, etwa in London, ausbreitete, war eine unmittelbare Folge der Einwanderung. Es war ein kompliziertes System von miteinander verbundenen Sub- und Subsubunternehmern, von denen einer am anderen zu verdienen versuchte, ein System, in dem einer den anderen trat und die am stärksten Getretenen und Ausgebeuteten bis zu 18 Stunden am Tag in dunklen und schlecht belüfteten Löchern schuften und schwitzen mussten. Daher der heute zunächst harmlos klingende Name.

Arbeit im Akkord

Das Sweatshop-System verschlang in erster Linie junge Frauen, deren billigere Arbeitskraft begehrter war als die der Männer. Arbeitszeiten bis zu 60 Stunden pro Woche waren keine Seltenheit. Die Frauen und jungen Mädchen mussten ihre Nähmaschinen und Stühle selbst erstehen und mit zur Arbeit bringen. Sie arbeiteten im Akkord und durften während der Arbeit nicht sprechen, bisweilen war ihnen sogar verboten, den Kopf zu heben. Es gab keinerlei gesetzliche Bestimmungen zu ihrem Schutz. Die Löhne, die die Arbeiterinnen erhielten, reichten nicht zum Leben. Sie waren in den Augen ihrer männlichen Konkurrenz oft nur ein Taschengeld, und die Frauen waren den Männern gegenüber in jeder Hinsicht benachteiligt. Juristisch gesehen, stand ihnen ihr Verdienst sogar überhaupt nicht zu. Ehemänner oder Väter konnten sich die Löhne ihrer Frauen und Töchter aushändigen lassen.

Es geschah, dass die Frauen morgens zu ihrer Produktionsstätte kamen und ihr Chef sich mit allen Maschinen und den ausstehenden Geldern aus dem Staub gemacht hatte. Räume brannten aus, Versicherungsbetrug war dabei häufig im Spiel. Da sie immer nur dieselben Arbeitsgänge absolvieren mussten, konnten sich die Frauen nicht qualifizieren. Viele arbeiteten überdies in Heimarbeit; ihre Kinder – sofern diese nicht selbst an einer Nähmaschine saßen – schleppten Kleiderbündel durch die Straßen. Die jeweils erste Generation der Einwanderer aus Russland und Osteuropa musste angesichts dieser Umstände feststellen, dass sie vom Regen in die Traufe gekommen, dass sie in Verhältnissen gelandet waren, die bisweilen schlimmer waren als diejenigen, die sie verlassen hatten.

Doch auch der Widerstand war enorm. Rose Pesotta wird Anarchistin. Sie stürzt sich in die starke anarchosyndikalistische Bewegung, steigt zur Gewerkschaftsführerin auf und wird im Verlauf ihrer Karriere Streiks im Staate New York, in Kalifornien und in Puerto Rico organisieren. Rose Pesotta ist dabei keinesfalls eine Ausnahmeerscheinung. Für viele Auswanderermädchen aus Osteuropa beginnt in der Neuen Welt ein zwar schwieriger, aber durchaus erfolgreicher Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und die eigene Emanzipation. Indem sie in Bremerhaven, Southhampton oder Antwerpen ein Schiff bestiegen hatten, hatten sie einen »Zeitsprung von Jahrhunderten« vollzogen, wie Ruth Gay diesen Schritt beschrieb, auch sie eine Tochter russisch-jüdischer Einwanderer, aus der in den USA eine renommierte Historikerin und Autorin wurde.

Mit den Jahren erkämpfen die Gewerkschaften bessere Arbeitsbedingungen. Rose Schneiderman, ursprünglich aus einem Dorf bei Chelm in der heutigen Ukraine stammend, wird in den dreißiger Jahren gar Präsidentenberaterin. Letztlich – auch erst in den dreißiger Jahren – wird die Gesetzgebung von Präsident Roosevelt auch für eine soziale Absicherung der amerikanischen Bürger und Bürgerinnen inklusive der Einwanderer im Alter sorgen.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Immigration in die Vereinigten Staaten längst zum Erliegen gekommen. Bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in den die USA 1917 eintraten, begannen deren Behörden, die Einwanderung stark einzuschränken. Das Geschäft der Reedereien mit den Migrationswilligen boomte bis 1913. Das Ausreisejahr von Rose Pesotta war das letzte wirklich gute Jahr für die Schifffahrtsgesellschaften. Die Räume der Red-Star-Linie in Antwerpen verwaisten, nun sind sie im Museum als Bestandteil europäischer Erinnerungskultur wieder auferstanden.

Auswanderung und Mädchenhandel

Nicht nur in Belgien, auch in der Bundesrepublik rücken die Auswanderer mittlerweile in den Mittelpunkt historischer Aufmerksamkeit. Doch während man in Antwerpen gerne stolz auf diejenigen hinweist, die es in den USA zu einem großen Namen gebracht haben, hat sich das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven im vergangenen Jahr ganz auf die düsterste Seite der Migration konzentriert, denn Izaak Peisoty war eine Ausnahmeerscheinung gewesen.

Manche Väter oder Familien konnten sich die Kosten der Zugfahrt nicht leisten, anderen war es egal. Wieder andere wollten selber auswandern und schickten ihre Töchter als Quartiermacherinnen vor, oder sie vermeinten, auf eine Tochter eher verzichten zu können als auf einen Sohn. Tatsache ist, dass viele junge und sehr junge Frauen sich ganz allein auf den langen Weg gemacht haben.

Manche, erst 13 oder 14 Jahre alt, gerieten in die Hände von Zuhältern, wurden vergewaltigt, erpresst und an Bordelle in Südamerika verkauft. Manche waren dubiosen Arbeitsvermittlern oder Männern anvertraut worden, die sich als Arbeitgeber ausgaben. Manche Männer heirateten mehrere junge Frauen und brachten sie dann auf einem Schiff außer Landes.

Da die osteuropäische, österreichische oder russische Armut und Migration in erster Linie eine jüdische Angelegenheit waren, rekrutierten sich auch die Zuhälter aus dieser Bevölkerungsgruppe. Im Vorwort des Ausstellungs­katalogs »Der gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930«, den die Kuratorin Irene Stratenwerth veröffentlicht hat, werden denn auch entsprechende Bedenken formuliert: Man habe keine Ausstellung über junge Frauen machen wollen, die als Prostituierte nach Südamerika verschleppt wurden und unter Umständen auch eingewilligt hatten, diesen Schritt zu tun. Es habe die Befürchtung im Raum gestanden, schreibt die Direktorin des Auswandererhauses Bremerhaven im Vorwort von »Der gelbe Schein«, »dass es doch nicht der Political Correctness entprechen kann, eine Ausstellung über Jüdinnen in der Prostitution zu zeigen«.

Aber indem man die Realität verschweigt, schafft man sie nicht aus der Welt. Mit dem »weißen Sklavenhandel«, wie das Phänomen damals genannt wurde, beschäftigte sich ­seinerzeit schon die österreichische Frauenrechtlerin, Schriftstellerin und Gründerin des Jüdischen Frauenbundes sowie eines Wohnheims für betroffene Frauen in Neu-Isenburg bei Frankfurt am Main, Bertha Pappenheim. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reiste sie sogar selbst in die osteuropäischen Gebiete, die ganz besonders vom Frauenhandel betroffen waren, um die Lage in Augenschein zu nehmen.

Bertha Pappenheim nahm kein Blatt vor den Mund und hatte auch keine Bedenken, den Umstand zu problematisieren, dass Frauen nicht nur Opfer, sondern bisweilen auch Täterinnen waren. Im Jahr 1910 notierte sie: »Wie bekannt, sind die Händler und Agenten vielfach Frauen, kapitalkräftige Kaufleute, die oft unter dem Deckmantel größter Ehrbarkeit ihr Geschäft betreiben. Fast ebenso unfasslich wie das Gewerbe selbst ist, dass in Rumänien sowie Galizien die Mädchenhändler als solche in den jüdischen Gemeinden gekannt und doch geduldet sind. In einigen Orten, die ich besuchte, hat man mir am Samstagnachmittag Herren gezeigt, die mit Kaftan und Schläfchenlöckchen scheinbar fromm einherwandelten und vielleicht im Stillen im üblichen Corso ihre Auswahl trafen und Pläne machten. In einer großen österreichischen Stadt wurden mir jüdische Frauen genannt, Besitzerinnen von Mietshäusern, die ihr Vermögen notorisch durch Mädchenhandel gesammelt hatten. Von der einen wusste man, dass sie zur Zeit auf dem Wege nach Indien war und dass sie bestimmte Beziehungen zu ihrer Heimat erhalte.«

Irene Stratenwerth zitiert Bertha Pappenheim in ihrem Buch. Sie selbst ist der Meinung, die Mädchen und jungen Frauen hätten doch ahnen müssen, auf was sie sich einließen, wenn sie einem Unbekannten vertrauten. Sie stellt Fälle wie den von Sophia Chamys dar, die sich ihrem Zuhälter immer wieder unterwarf: Sophia stammte aus einem Dorf in der Nähe von Warschau. Eines Tages begleitete sie ihren Vater, der auf Arbeitssuche war, in die Stadt, doch nicht er, sondern sie wurde angesprochen. Ein elegant gekleideter Mann gab sich als Isaak Boorosky aus und erklärte, er suche ein Dienstmädchen für seine Mutter in Lódz. Der Vater, dem er den vorgeblichen Lohn für die nächsten sechs Monate ausbezahlte, übergab die 13jährige in die Hände Booroskys, dem sie trotz der Qualen, die er ihr bereitete, auch verfiel. Booroskys verschleppte sie in ein Bordell in Buenos Aires, sie konnte entkommen und ging zurück nach Europa. Doch sie glaubte weiterhin an das Eheversprechen, das er ihr gegeben hatte.

Über die letzten Jahre von Sophia Chamys berichtet Stratenwerth: »Ein halbes Jahr später geht die mittlerweile 15jährige wieder an Bord eines Schiffes nach Buenos Aires. Isaak Boorosky reist getrennt von ihr, er hat mehrere junge Frauen dabei, die er für ein Leben in Südamerika angeworben hat. Für die nächsten Jahre wird sich Sophias Leben zwischen Buenos Aires, Montevideo und Rio de Janeiro abspielen. Sie wird als Prostituierte viel Geld verdienen und immer wieder versuchen, sich von Boorosky zu trennen. Doch jedes Mal, wenn er ihr verspricht, sie zu heiraten, bindet sie sich wieder an ihn. Das Geld, das sie verdient, gibt er dazu aus, neue Mädchen nach Buenos Aires zu schleusen. Mal bringt er eine weitere Verlobte aus Europa mit, mal eine neue Ehefrau.«

Das Glück lässt auf sich warten

Irgendwann war Sophia Chamys mit ihren Kräften am Ende und ging zur Polizei, um Boroosky anzuzeigen. »Wir ihr Leben weiterging«, schreibt Stratenwerth, »wissen wir nicht. Vielleicht wurde sie eines Tages auf dem Inhauma-Friedhof in Rio de Janeiro begraben. Ab 1916 konnten dort diejenigen jüdischen Frauen nach jüdischem Ritus beerdigt werden, die als ›Unreine‹ aus der Jüdischen Gemeinde ausgegrenzt waren.«

Fest steht – das Museum der Red-Star-Linie und das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven verdeutlichen dies –, auszuwandern und sein Glück in Amerika zu suchen, bedeutete immer ein enormes Risiko. Die Einwanderer und Einwandererinnen in den USA konnten bisweilen erst im Alter, nach einem langen erschöpfenden Arbeitsleben, diejenige soziale Sicherheit erreichen, nach der sie sich in den Stetln so gesehnt hatten. Und in der Regel ­gelang erst ihren Kindern die mühelose, vollständige Beherrschung der Sprache, der Zugang zu besseren Jobs und somit der soziale Aufstieg.

Rose Pesotta hingegen stieg in der gesellschaftlichen Hierarchie noch einmal ab. Bewusst und mit Absicht: Nach Pearl Harbor kehrte die Gewerkschaftsfunktionärin zu ihrem Ausgangsjob an einer Nähmaschine in einer Textilfabrik zurück.

Zwischenzeitlich war es ihr gelungen, ihre Mutter zu sich nach New York zu holen. Als sie dort ihre erste Autobiographie, »Bread Upon the Waters«, schrieb, die 1944 erschien, hatte sie noch keine Informationen darüber, dass die Deutschen, nachdem sie im Sommer 1941 in Derazhnia eingefallen waren, die gesamt jüdische Bevölkerung im September 1942 erschossen hatten. Als Derazhnia im März 1944 von der Roten Armee befreit wurde, lebten keine Juden mehr in dem Ort. Nur diejenigen, die rechtzeitig emigriert waren, haben überlebt.

Von Rose Pesotta gibt es zwei Autobiographien, »Bread Upon the Waters« aus dem Jahr 1944 und »Days of Our Lives« von 1958. Beide sind nur noch antiquarisch zu erhalten. Darüber hinaus existiert eine Biographie von Rose Pesotta von Elaine Leeder: »The Gentle General« (1993). Alle Übersetzungen aus diesen Quellen stammen von der Autorin.

Zur Ausstellung »Der gelbe Schein – Mädchenhandel 1860–1930« im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven gibt es das gleichnamige Buch von Irene Stratenwerth in der Edition DAH (2012). Das Red-Star-Line-Museum in Antwerpen hat einen eigenen Internetauftritt.

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