Quelle: Zeit Online
von Andrea Backhaus
[…] Ein Besuch in Imbaba ist ein Ausflug ins Elend. Dicht an dicht stehen brüchige Bauten, dazwischen drängen sich morsche Baracken und verwilderte Lagerstellen. In den Gassen, in die kaum Tageslicht dringt, gammeln Essensreste, Abwasser rinnt aus den Häusern auf die sandigen Durchgänge. Imbaba ist einer der größten Slums der Welt. Er liegt neben der eleganten Kairoer Nil-Insel Gezira mit den Boutiquen und mondänen Cafés, im Süden trennt ihn nur eine mehrspurige Straße von Mohandessin, einem Viertel für die gehobene Mittelschicht. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen leben in Imbaba. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Doch es werden immer mehr.
Das Ziegelhaus liegt in einem Hinterhof. Eine Betontreppe führt hinauf in die Wohnung von Abdel Hadi. Hier lehnt der Familienvater, Anfang 40, Bart, kräftige Statur, auf der Sitzbank in der kargen Eingangshalle und rückt sich die Gebetsmütze zurecht. „Das Leben wird härter“, sagt er. „Aber Gott wird uns helfen.“ Es ist Abdel Hadis freier Tag. Seine Frau Sarah bereitet in der Küche das Mittagessen zu, die drei Kinder toben durch die drei kleinen Räume. Das Mobiliar ist überschaubar: ein paar Teppiche, zwei Schränke, drei Betten. Vor zehn Jahren habe er das Haus gebaut, sagt Abdel Hadi, für sich und seine drei Brüder, die hier ebenfalls mit ihren Familien lebten, weil es in Imbaba noch günstig sei. „Der Staat ignoriert die Armen. Deshalb sorgen die Familien füreinander.“Fast die Hälfte Kairos besteht mehr oder weniger aus Elendsvierteln, Imbaba ist das bekannteste. In diesen informellen Siedlungen, meist von Landflüchtlingen am Stadtrand errichtet, wohnen jene 40 Prozent der Ägypter, die von wenig mehr als einem Euro pro Tag leben müssen. Jahrelang hatte die Regierung unter Hosni Mubarak die Ausdehnung dieser Viertel ignoriert. Seit der Revolution 2011 ist die Zahl der illegalen Bauten dann nahezu explodiert – was die Probleme dort noch verschärft. Die Arbeitslosigkeit beträgt stellenweise achtzig Prozent, jeder Zweite kann nicht lesen und schreiben. […]
„Wir leben auf engstem Raum. Die Wasser- und Stromversorgung ist miserabel. Es gibt keine Straßen, keine Kanalisation, keine Müllabfuhr“, sagt Abdel Hadi, der in der Innenstadt Autoersatzteile verkauft. Nichts sei besser geworden seit der Revolution. Die stete Unruhe habe nicht nur den Tourismus zum Erliegen gebracht, „dieses Lebenselixier aller Ägypter“. Auch Kunden blieben aus, weil Tränengas um den Tahrir-Platz wehe oder die Polizei ganze Straßenzüge abriegle. In guten Zeiten habe er 300 Pfund, rund 30 Euro, in der Woche verdient. Heute seien es oft nur zehn Euro. An der Wand surrt der Kühlschrank, gegenüber zeigt ein Mini-Flachbildschirm eine Verfolgungsjagd zwischen Tom und Jerry. „Uns geht es besser als vielen anderen hier. Doch selbst wir können uns oft nicht genug Essen leisten.“
Es sind die Menschen in Vierteln wie Imbaba, deren Hoffnung auf einen Wandel am meisten enttäuscht wurde. Immerhin war die wirtschaftliche Misere ein zentraler Antrieb für den Volksaufstand 2011, der zum Sturz des Langzeitpräsidenten Mubarak führte. Wer auf dem Tahrir-Platz protestierte, hoffte auf Arbeit, Bildung und eine Perspektive. Aber die massiven ökonomischen Probleme blieben unter dem Islamisten Mohammed Mursi bestehen. Und auch das Militär, das seit Mursis Sturz Anfang Juli die Geschicke lenkt, hat bisher weder die Arbeitslosigkeit, die hohen Preise für Mieten und Lebensmittel noch die anhaltende Strom- und Benzinknappheit eindämmen können.
„Die Situation hat sich seit 2011 vor allem für die ärmeren Ägypter spürbar verschlechtert“, sagt der Ägypten-Experte Stephan Roll von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Keine Regierung nach Mubarak hat die notwendigen Reformen angestoßen. So gibt Ägypten noch immer einen Großteil des Staatshaushalts für Benzin-, Strom- und Brotsubventionen aus, ein Relikt aus der Nasser-Zeit, das mehr denn je die wirtschaftliche Zukunft des Landes gefährdet. Denn das Subventionssystem diene dazu, die Ärmeren ruhig zu stellen und den Eliten Profit zu bescheren, sagt Roll. „Ägypten braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag. Aber eine so tiefgreifende Veränderung in einer so schwierigen Lage durchzusetzen, ist fast unmöglich.“
Es ist Essenszeit. Abdel Hadi verteilt Schüsseln auf dem Boden im Wohnzimmer, es gibt Spaghetti, Fleischspieße und Brot. Das größte Problem sei die Korruption, sagt er, und lässt sich neben Mohammed, dem älteren Sohn, auf die Knie fallen. „Hier herrscht weder Recht noch Gesetz. Die Mafia regiert.“ Überall müsse man bezahlen, wenn man mehr wolle als die Grundversorgung, die „kümmerlich“ sei, wie Hadi sagt. Wer kann, kaufe gesundes Essen und richtige Medikamente auf dem Schwarzmarkt. In der Schule zahle man horrende Gebühren für Nachhilfe, weil die Kinder im Unterricht nichts lernten. „In Imbaba sieht man, wie der Staat versagt.“
[…] Deshalb organisierten sich viele Bewohner in der letzten Zeit selbst in Netzwerken, die nicht selten den Muslimbrüdern oder Salafisten nahestehen. In Imbaba hat der Nachbarschaftsausschuss des Anwaltes Khaled Atef Popularität erlangt, weil er mithilfe der Islamisten eine Straße reparierte und einen Schwarzhändler dingfest machte, der Brennstoff zu Wucherpreisen anbot. Indes: Seit das Militär gegen die Muslimbrüder vorgeht, sind solche Vorhaben nahezu unmöglich geworden. Imbaba gilt als ein Zentrum islamischer Fundamentalisten und steht schon lange im Visier der Sicherheitskräfte.
Nun aber gibt es, wie Bewohner berichten, Razzien und willkürliche Verhaftungen, etliche Organisatoren solcher Ortsgruppen seien verschwunden. Seit Kurzem, sagt Hadis Frau Sarah, kämen die Militärs, um Brot und Stifte zu Spottpreisen zu verkaufen. „Sie wollen sich Stimmen für die Wahl holen.“ Sie flüstert fast. „Aber hier halten die Menschen zu Mursi. Sie sagen, nur die Reichen unterstützen das Militär.“ Abdel Hadi springt auf. Gleich komme der Scheich, um den Kindern, wie jeden Sonntag, die heiligen Verse des Korans beizubringen. Das sei teuer, aber unverzichtbar. „Es geht um die Zukunft meiner Kinder.“ […]“