31. Dezember 2013 · Kommentare deaktiviert für Rumänien Bulgarien: Wer hat von EU-Osterweiterung bislang profitiert? · Kategorien: Bulgarien, Deutschland, Europa, Rumänien · Tags: ,

Spiegel Online

„Stimmungsmache gegen Zuwanderung: CSU-Kampagne irritiert Rumänen und Bulgaren

Von Keno Verseck

In Rumänien und Bulgarien sorgen die CSU-Warnungen vor armen Migranten für Ärger. Westliche Länder hätten doch von der EU-Osterweiterung profitiert, meinen Experten – nun könnten sie sich nicht einfach abschotten.

[…] Kommentatoren [in Rumänien und Bulgarien] erinnern daran, dass die meisten bulgarischen und rumänischen Auswanderungswilligen ihre Heimatländer längst verlassen hätten – und im Westen arbeiten. Derweil wird in Serviceteilen von Zeitungen und Online-Medien vor betrügerischen westlichen Arbeitgebern gewarnt – etwa in der deutschen Fleischindustrie.

[…] „Natürlich werden Rumänen und Bulgaren nach dem 1. Januar nicht massenhaft nach Deutschland strömen, schon gar nicht, um Sozialhilfe zu beantragen, das ist völlig übertrieben“, sagt der Politologe Ognjan Mintschew vom Sofioter Institut für regionale und internationale Studien (IRIS).Ähnlich sieht es die rumänische Politologin Alina Mungiu-Pippidi, die in Berlin an der Hertie School of Governance lehrt und für die EU als Anti-Korruptions-Beraterin tätig ist. „Insgesamt gesehen, sind Armutsmigranten eine Ausnahmeerscheinung. Die Leute reisen nicht in ein irrsinnig bürokratisches Sozialhilfesystem, sondern dahin, wo es Arbeitsplätze gibt.“Das tun Rumänen und Bulgaren seit langem: Schätzungen zufolge sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten, vor allem seit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens Anfang 2007, rund drei Millionen Rumänen und 1,6 Millionen Bulgaren aus ihren Heimatländern abgewandert. Die meisten arbeiten in Italien und Spanien im Baugewerbe und in der Landwirtschaft. Deutschland war zunächst vor allem für Hochqualifizierte aus Rumänien und Bulgarien attraktiv – für Ärzte, medizinisches Pflegepersonal, Ingenieure und IT-Fachleute. Inzwischen kommen, verstärkt durch die Wirtschaftskrise in südeuropäischen Ländern, auch zunehmend weniger Qualifizierte nach Deutschland.[…] Rumänien und Bulgarien, bis Mitte des 20. Jahrhundert rückständige Agrarländer, sind heute die beiden ärmsten EU-Mitglieder. Rumäniens Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 6200 Euro, das Bulgariens bei 5400 Euro gegenüber dem EU-Durchschnitt von 25.500 Euro. Der Durchschnittslohn in Rumänien beträgt 370 Euro, in Bulgarien liegt er nochmal um hundert Euro niedriger, in beiden Ländern leben große Teile der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze.

[…] Die mit der EU-Erweiterung verbundenen Wohlstandsversprechen konnten in beiden Ländern bisher nicht eingelöst werden. Zwar stünden Rumänien und Bulgarien viele Milliarden an EU-Förderhilfen zu, mit denen beispielsweise dringende Infrastrukturprojekte finanziert werden sollen, von der Ausbesserung des maroden Straßennetzes über die Kanalisation für ländliche Gegenden bis hin zum Umbau des Energienetzes. Doch beide Länder haben infolge von Verwaltungschaos massive Schwierigkeiten, die EU-Fördergelder abzurufen – und rücken so absurderweise in die Nähe von EU-Nettozahlern.Umgekehrt sind Rumänien und Bulgarien zu Lieferanten von Hochqualifizierten für westliche Länder geworden. Beispiel: Ärzte aus Rumänien. Schon vor Jahren begann der Exodus der Mediziner, auch nach Deutschland – in Rumänien selbst fehlen nach Schätzungen des dortigen Berufsverbands der Mediziner inzwischen etwa 40.000 Ärzte. Ähnlich sieht es in vielen anderen Branchen aus. Rumänien und Bulgarien erleben seit Jahren einen drastischen Braindrain ihrer Fachkräfte. „Bisher haben westliche Länder von dieser Migration profitiert“, sagt Alina Mungiu-Pippidi. „Es ist scheinheilig, wenn sie jetzt Restriktionen für Migranten einführen wollen, die ihnen nicht willkommen sind.“

Auch Ognjan Mintschew sieht Westeuropa, das von der EU-Erweiterung ökonomisch stark profitiert habe, in der Pflicht. „Überall in Rumänien und Bulgarien konnten westliche Groß- und Einzelhandelsketten ihre Filialen eröffnen. Viele Kleinbauern sind in diesem Wettbewerbsprozess kaputtgegangen. Und so wie Bulgarien und Rumänien einen guten Absatzmarkt bieten, so sollten seine Menschen auch das legitime Recht auf freie Arbeitsplatzwahl haben.“ […]“

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