Regierungskrise in Tunis
Woche des nationalen Protests in Tunesien
nzz 28.08.2013
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Nach dem Mord an Oppositionspolitiker Brahmi erlebt Tunesien eine weitere schwere Krise. Angesichts der verhärteten Fronten übernimmt die Zentralgewerkschaft die Vermittlerrolle und lädt zum nationalen Dialog ein.
Annette Steinich, Tunis
Am Montag hat in Tunesien eine vom Oppositionsbündnis Front du salut national initiierte Woche des nationalen Protests begonnen, um die Regierung von Premierminister Ali Larayeth zum Rücktritt zu zwingen. Der Auftakt war eine friedliche Kundgebung am Samstag in der Hauptstadt Tunis vor dem Sitz der Konstituante. Etwa 10 000 Personen nahmen an der Veranstaltung teil. Im Laufe der Woche soll es landesweit Demonstrationen geben, insbesondere vor den Institutionen, in denen die Islamisten laut der Opposition Besetzungen nach parteipolitischen Motiven vorgenommen haben.
[…] Auslöser der neuerlichen politischen Krise war der Mord an dem linken Politiker Mohamed Brahmi am 25. Juli, dessen Mouvement du peuple zum Parteienbündnis Front populaire gehört. Mitglied dieses Bündnisses war auch Chokri Belaïd gewesen, der am 6. Februar auf offener Strasse vor seiner Wohnung erschossen wurde. Das Innenministerium macht für beide Taten radikale Salafisten verantwortlich und hat mehrere Verdächtige festgenommen.Nach dem Mord an Brahmi hatten knapp siebzig Abgeordnete der Opposition ihre Arbeit an der Verfassung, die kurz vor dem Abschluss steht, eingestellt. Mit ihrem Sitzprotest vor dem Parlamentsgebäude forderten sie die Auflösung der Konstituante und die Bildung einer unabhängigen Regierung. Die Abgeordneten, die sich zum parteiübergreifenden Front du salut national zusammenschlossen, werden unterstützt von der Zentralgewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) und weiten Teilen der Bevölkerung. Unmittelbar nach dem Mord an Brahmi hatte Premierminister Larayeth allerdings Wahlen für den 17. Dezember angekündigt und bis dahin einen Rücktritt seiner Regierung kategorisch ausgeschlossen.
Am 6. August suspendierte Parlamentspräsident Mustapha Ben Jaafar von der Partei Takatol die Konstituante, in der die Nahda die Mehrheit hat. Bedingung für die Wiederaufnahme der Arbeit ist laut Ben Jaafar der Beginn eines nationalen Dialogs zwischen den drei Regierungsparteien Nahda, Congrès pour la République und Takatol mit Oppositionsparteien, der UGTT und Vertretern der Bürgergesellschaft.Auf Initiative des tunesischen Anwalts und Uno-Diplomaten Taoufik Ouanes begann Ende Juli eine Dreierkommission eine Mediation mit allen beteiligten Akteuren. Die Auflösung der Konstituante wurde im Laufe der Gespräche zur Verhandlungsmasse, der Rücktritt der Regierung von Premierminister Larayeth bleibt aber bis heute Hauptforderung der Nahda-Gegner.
«Einstimmigkeit können wir nicht herstellen, aber Konsens», sagt Taoufik Ouanes. Die Konstituante sei als einzig legitime Instanz des Landes in Geiselhaft genommen. Von einem politischen Vakuum, das durch die Auflösung der Konstituante entstünde, profitierten nur die Terroristen. […] In der vergangenen Woche hat der Vorsitzende der Zentralgewerkschaft, Hassine Abassi, mehrere Gespräche mit dem Parteivorsitzenden der Nahda, Rached Ghannouchi, geführt, um zwischen den harten Fronten zu vermitteln. Bisher hatte es kaum einen Dialog zwischen Gewerkschaft und Nahda gegeben, doch Ghannouchi kündigte vor wenigen Tagen an, der Einladung der UGTT zum nationalen Dialog zu folgen. Allerdings knüpft er diese Zusage an die Ablehnung der Hauptforderung der Opposition: Der Dialog wird mit der bestehenden Regierung geführt, eine Expertenregierung im Konsens mit der Opposition steht erst am Ende der Verhandlungen.
Ghannouchis weitere Ankündigung, vor den kommenden Wahlen das umstrittene Gesetz zum Schutz der Revolution, das frühere Parteigänger unter Ben Ali von der politischen Teilhabe ausschliessen soll, auf Eis zu legen, ist ein Schritt in Richtung der Partei Nida Tounes von Béji Caid Essebsi. Die Partei liegt derzeit bei den Umfragen vorn, Essebsi selbst spekuliert auf das Präsidentenamt.
[…] Ghannouchi braucht für seine Entscheidung, den nationalen Dialog zu beginnen und die Regierung von Larayeth auszutauschen, den Rückhalt der Parteibasis, die noch Anfang des Monats mit grossen Gegendemonstrationen in der Hauptstadt auf der Legitimität von Konstituante und Regierung bestand. Ein Rückzug aus der Regierungsverantwortung gäbe der Nahda im Wahlkampf jedoch die Möglichkeit, die in den vergangenen zwei Jahren ausgebliebenen sozialen und wirtschaftlichen Erfolge der von der Opposition erzwungenen Technokratenregierung in die Schuhe zu schieben. […]“