28. Februar 2013 · Kommentare deaktiviert für Sozialleistungen für EU-BürgerInnen · Kategorien: Deutschland, Europa

jw 28.02.2013

http://www.jungewelt.de/2013/02-28/055.php

»Das Eilverfahren ist für Betroffene ein Glücksspiel«

Seit 2012 wird EU-Bürgern der Zugang zum deutschen Sozialsystem verwehrt. Jobcenter entscheiden willkürlich.

Gespräch mit Lutz Achenbach, Interview: Carmela Negrete

Lutz Achenbach ist Anwalt für Sozialrecht in Berlin und unterstützt das »Berliner Netzwerk gegen den deutschen EFA-Vorbehalt«

Was ist das Europäische Fürsorge-Abkommen (EFA), und welche Bedeutung hat es für EU-Bürger, die in Deutschland Leistungen vom Jobcenter beantragen wollen?

Mit dem EFA verpflichteten sich die Vertragsstaaten, den Bürgern der anderen Staaten die gleichen sozialen Standards zu gewähren, wie die in ihren Ländern geltenden. Deutschland hat das Abkommen unterschrieben, und deshalb konnten Bürger aus Vertragsstaaten Leistungen vom Jobcenter nach dem Sozialgesetzbuch II beziehen, das sogenannte Hartz IV.

Die Bundesregierung hat im November 2011 einen sogenannten Vorbehalt gegen die Anwendung des EFA auf das Arbeitslosengeld II angemeldet. Damit sollten EU-Bürgern entsprechende Leistungen verwehrt werden. Wie sieht die Praxis heute aus?

EU-Bürgern, die sich »allein zum Zwecke der Arbeitssuche« in Deutschland aufhalten, werden diese Leistungen momentan von den Jobcentern verweigert. Das bedeutet für sie, daß ihre Integration in den Arbeitsmarkt deutlich erschwert wird. Die Nichtgewährung von Leistungen kann bei den Betroffenen zu Obdachlosigkeit und fehlender gesundheitlicher Versorgung und Absicherung führen.
Wenn man Hartz IV beantragt und eine Ablehnung erhält, legt man in der Regel zuerst Widerspruch ein. Das Jobcenter hat nun drei Monate Zeit, diesen Widerspruch zu bearbeiten. Erst dann kann man klagen – normalerweise wäre man bis dahin längst verhungert. Deshalb gibt es die Möglichkeit des Eilrechtsschutzes, d. h., daß viele Gerichte den Betroffenen aus anderen EU-Ländern im beschleunigten Verfahren Leistungen zusprechen. Oft bezweifeln sie die Rechtmäßigkeit des Vorbehalts oder die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses mit europarechtlichen Regelungen.

Gibt es beim Thema Sozialleistungen einen Widerspruch zwischen europäischen Regelungen und dem deutschem Recht?

Nach der »Verordnung zur Koordinierung des Systems der sozialen Sicherung« von 2004 ist eine Diskriminierung von EU-Bürgern beim Zugang zu Arbeitslosengeld II verboten. Somit dürfte der Ausschluß von EU-Bürgern nicht rechtens sein.

Was können die Betroffenen konkret tun, um sich gegen diese Praxis zur Wehr zu setzen?

Die Betroffenen können, wie ich schon sagte, im sozialgerichtlichen Eilverfahren eventuell ihre Ansprüche durchsetzen. In Berlin haben sie damit auch gute Chancen. Aber leider ist die Rechtsprechung des Landessozialgerichts uneinheitlich, insbesondere zwei Senate verweigern Betroffenen die Leistungen. Da es vom Zufall abhängt, an welchen Senat man gerät, wird dieses Eilverfahren für die Betroffenen zum Glücksspiel. Und da man höchstens für sechs Monate Leistungen zugesprochen bekommt, fängt das Spiel eventuell nach einem halben Jahr wieder von vorne an.

Klagen viele derjenigen, die einen ablehnenden Bescheid erhalten, vor den Sozialgerichten?

Viele Menschen wissen nicht, daß sie vor Gericht gute Chancen haben. Sie wehren sich also gar nicht erst, obwohl sie durchaus die Aussicht auf gerichtliche Anerkennung ihres Anspruchs hätten.

Was ist das »Berliner Netzwerk gegen den deutschen EFA-Vorbehalt«, und was hat es sich vorgenommen?

Das Netzwerk besteht aus Betroffenen und deren sozialem Umfeld, engagierten Sozialberatungsstellen und politischen Initiativen. Es informiert sozial Benachteiligte und unterstützt sie solidarisch darin, ihre Rechte durchzusetzen. Das Netzwerk versteht sich jedoch nicht nur als solidarische Unterstützung dieser Menschen, sondern thematisiert und kritisiert ebenso die politische Dimension des EFA-Vorbehalts im Kontext des deutschen »Euro-Krisenmanagements«.

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