27. Februar 2013 · Kommentare deaktiviert für 10 Jahre Dublin-II-Verordnung – kein Grund zum Feiern · Kategorien: Deutschland, Europa · Tags:

Zwei neue Studien zeigen, dass das europäische Zuständigkeitssystem die Rechte von Flüchtlingen verletzt.

In der letzten Woche feierte die Dublin-II-Verordnung ihren zehnten Geburtstag. Mit der Verordnung, die am 18. Februar 2003 verbschiedet wurde, regelt die Europäische Union seitdem, wo sich Asylsuchende in der Europäischen Union aufhalten dürfen und wo nicht. Sie ist gleichzeitig die Rechtsgrundlage für tausende Abschiebungen innerhalb der EU, die immer dann stattfinden, wenn Asylsuchende sich im gemäß der Verordnung „falschen“ Mitgliedstaat aufhalten.

Aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der Verordnung veröffentlichen letzte Woche – die französische NGO „Forum Réfugiés“, – der europäische Flüchtlingsrat (European Council on Refugees & Exiles – ECRE) und – die ungarische NGO „Helsinki-Komitee“ zusammen mit ihren nationalen Partnerorganisationen – darunter der Hessische Flüchtlingsrat (HFR) – eine englischsprachige Studie zur Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Europa.

Die Untersuchung mit dem Titel „Dublin II Regulation – Lives on hold“ (deutsch: „Die Dublin-II-Verordnung – Leben in der Warteschleife“) geht auf eine eineinhalbjährige Recherche zurück, analysiert die Anwendungspraxis in elf europäischen Ländern und vergleicht sie miteinander. Sie ist abrufbar unter

http://www.ecre.org/component/downloads/downloads/701.html

Der Hessische Flüchtlingsrat hat seinerseits im Rahmen seiner Mitarbeit an der länderübergreifenden Studie eine deutschsprachige Studie erstellt, die sich ausführlich der (spezifischen) Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland widmet und nun ebenfalls veröffentlicht wird. Sie ist abrufbar unter

http://www.dublin-project.eu/dublin/content/download/6218/75674/version/3/file/National_Report_Germany_final_dt%5B1%5D.pdf

Beide Studien kommen zu dem Ergebnis, dass das „Dublin-System“ sowohl gegenüber den Asylsuchenden als auch gegenüber den Staaten versagt.

Entgegen der erklärten Absicht werde durch die Dublin-II-Verordnung nicht garantiert, dass alle Asylsuchenden Zugang zu einem Asylverfahren hätten. Weiterhin sorge die Verordnung dafür, dass Familien getrennt würden, Menschen inhaftiert oder von sozialer Unterstützung ausgeschlossen würden.

So sollte z.B. im Herbst 2011 ein syrischer Familienvater von Deutschland nach Italien abgeschoben werden, während seine Frau und Kinder in Deutschland hätten bleiben dürfen. Grund hierfür: Italien war das Land, in dem er zum ersten Mal europäischen Boden betreten hatte. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stoppte das Auseinanderreißen der Familie auf der Grundlage der Dublin-II-VO (Entscheidung vom 19.10.2011, Az. 64208/11; der Fall ist in der europaweiten Studie auf S. 38 dargestellt, in der auf Deutschland bezogenen Studie auf S. 21).

In der vorvergangenen Woche, am 13. Februar 2013, intervenierte der EGMR nun erneut und stoppte vorläufig die Abschiebung einer fünfköpfigen Familie von Deutschland nach Italien (Az. 81498/12; der Fall konnte aufgrund seiner Aktualität keinen Eingang in die Studien mehr finden; siehe Näheres aber unter:

http://www.asyl.net/index.php?id=startseite&tx_ttnews[tt_news]=47371&cHash=20c560c06220e57308cff7d89baf0704).

Die Eltern waren vor den islamistischen Rebellen aus Somalia geflüchtet und hatten Italien im April 2011 mit ihrem wenige Monate alten ersten Kind erreicht. Dort wurden sie für einige Monate in einem Flüchtlingslager untergebracht. Im Januar 2012 jedoch, als die Mutter mit Zwillingen im siebten Monat schwanger war, wurden sie aus dem Lager entlassen. Nachdem die Familie auch einen provisorischen Unterschlupf in einem Kirchenraum nach wenigen Tagen verlor und mitten im Winter obdachlos war, entschied sie sich zur Weiterflucht nach Deutschland. Trotz der bereits erlittenen und mit großer Wahrscheinlichkeit erneut bevorstehenden Obdachlosigkeit der Familie in Italien sahen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das Verwaltungsgericht Kassel und auch das Bundesverfassungsgericht keinen Grund, auf die Abschiebung nach Italien zu verzichten. Der EGMR dagegen hielt es für hinreichend wahrscheinlich, dass eine Abschiebung der Familie mit drei Kleinkindern gegen das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) verstoßen könnte und untersagte sie vorläufig.

Eine Hoffnung, dass sich an dieser Situation, für die diese beiden Fälle stellvertretend stehen, bald etwas nachhaltig ändern könnte, besteht nicht. Die demnächst in Kraft tretende Neufassung der Dublin-II-Verordnung wird zwar in einigen Bereichen deutliche Verbesserungen mit sich bringen, wie z.B. das Recht auf eine persönliche Anhörung. Aber das grundlegende Prinzip des Dublinsystems bleibt unangetastet und seine Mängel werden nicht behoben.

Die beiden Studien kommen daher zu dem Ergebnis, dass letzten Endes das grundlegende Prinzip der Dublin-II-Verordnung revidiert werden müsste, um ein humaneres und gerechteres System zu schaffen. Statt die Asylsuchenden unter allen Umständen in das Land zurückzuschicken, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten hatten, sollten ihre die persönliche Situation, ihre Anknüpfungspunkte an bestimmte Mitgliedsstaaten und ihre Chancen auf Integration in den Mittelpunkt gestellt werden.

Kontakt zu den Autoren der Studie des Hessischen Flüchtlingsrates: Dominik Bender und Maria Bethke, E-Mail: dublin@fr-hessen.de

PS: Die Absenderadresse ist keine Antwortadresse. Bitte ggfs. ra-bender@online.de benutzen.

Kommentare geschlossen.