18. November 2016 · Kommentare deaktiviert für „Die Zahl der Flüchtlinge aus Libyen und die Zahl der Ertrunkenen steigen“ · Kategorien: Europa, Libyen, Mittelmeerroute

Quelle: Telepolis | 18.11.2016

„Hey #Europe, it’s time to wake up! The anti-smuggling agenda being pushed by your governments is increasing the death toll on the Med!“

Für Ärzte ohne Grenzen ist dies ein Weckruf, zumal im Nahen Osten und in Afrika neue und ungelöste Krisen und Konflikte zu neuen Flüchtlingsströmen führen

Florian Rötzer

Gestern sind womöglich bis zu 100 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, die von Libyen nach Italien gelangen wollten. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die mit den Schiffen „Dignity I“ und „Bourbon Argos“ den Flüchtlingen hilft, berichtet, dass nur 27 Menschen vom britischen Militärschiff Enterprise gerettet werden konnten. Sie wurden von den Briten dem MSF-Schiff Argos übergeben. Sie seien „erschöpft, geschickt und traumatisiert“ gewesen sein, so MSF-Koordinator Michele Felaro.

In dieser Woche sind damit bereits 340 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, im ganzen Jahr mehr als 4200, 700 mehr als letztes Jahr. Befürchtet wird, dass weiter Flüchtlinge versuchen werden, über das Mittelmeer vor allem aus Libyen nach Europa zu kommen, und dass aufgrund des schlechteren Wetters im Winter noch mehr ertrinken werden.

Die gestern geretteten Flüchtlinge, alles Männer aus Gambia, Guinea, Mali, Senegal und Sierra Leone, waren am Montag mit einem Dinghi in der Nähe von Tripoli losgefahren. Die Schmuggler, die anfangs eine Zeitlang das Boot begleitet hatten, entfernten schließlich den Motor und überließen die Menschen auf dem Boot ohne ein Satellitentelefon ihrem Schicksal. Das völlig überladene Boot wurde bald von Wasser überschwemmt, während es an Luft verlor. Schon während der Fahrt sollen Menschen über Bord gefallen oder vor Erschöpfung gestorben sein

Nach der italienischen Küstenwache wurden seit Samstag mehr als 3200 Flüchtlinge, so viele wie im gesamten November vor einem Jahr, gerettet, die auf dem Mittelmeer in überfüllten und nicht seetauglichen Booten unterwegs waren. Seit Beginn des Jahres sind damit mehr als 165.000 Flüchtlinge nach Italien gekommen, 2015 waren es im ganzen Jahr 153.000.

Damit dürften die Zahlen von 2014 wieder erreicht werden, als vor dem Flüchtlingsstrom über Griechenland und die Balkanroute 170.000 Flüchtlinge nach Italien kamen, das die übrigen EU-Mitgliedsländer ebenso wie Griechenland mit dem Problem alleine lassen. Auch nach Griechenland kamen in diesem Jahr nach der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 170.000 Flüchtlinge, nach Spanien über 5400. Insgesamt sind bislang in diesem Jahr mehr als 340.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gelangt. Das ist zwar weit unter den mehr als 700.000 Flüchtlingen, die 2015 kamen, aber die neuen Zahlen machen klar, dass auch mit der Schließung der Balkanroute und einer vermehrten militärischen Überwachung des Mittelmeers noch keine Lösung gefunden wurde.

Unklar bleibt sowieso, ob die Türkei das Flüchtlingsabkommen mit der EU weiter einhalten wird. Schon jetzt droht der türkische Präsident Erdogan immer einmal wieder damit, die Flüchtlinge nach Europa ziehen zu lassen, was hieße, dass Griechenland erneut in das Zentrum der Krise rücken würde. Schon jetzt sind die Lager in Griechenland überfüllt und nehmen die übrigen EU-Mitgliedsländer weiter kaum oder keine Flüchtlinge auf.

MSF hat im Juni beschlossen, aus Kritik an der Flüchtlingspolitik bzw. Flüchtlingsabwehrpolitik keine Gelder mehr von der EU und den Mitgliedsländern zu nehmen. Die Organisation macht die EU für die zunehmende Zahl an ertrinkenden Flüchtlingen verantwortlich und fordert legale und sichere Möglichkeit für Asylsuchende, an den Grenzen ihren Antrag zu stellen, beispielsweise auch an der griechisch-türkischen Landgrenze bei Evros. Nachdem dort Griechenland mit Unterstützung der EU einen 4 m hohen Zaun zur Abwehr von Flüchtlingen gebaut hatte, der Ende 2012 fertig wurde, wichen diese erst auf den gefährlicheren Weg über das Mittelmeer aus. Zudem sollen die europäischen Länder mehr Einwanderungsmöglichkeiten eröffnen.

Der Flüchtlingsstrom wird angesichts der Krisen und Kriege im Nahen Osten und Afrika nicht abreißen

Derzeit sieht die Situation im Nahen Osten und in Afrika nicht so aus, als könne mit weniger Menschen gerechnet werden, die in Europa Sicherheit, Zuflucht und ein besseres Leben suchen. MSF berichtet, dass am Mittwoch erneut zwei Krankenhäuser in Aleppo angegriffen wurden, nachdem die syrische und russische Luftwaffe die Bombardierungen wieder aufgenommen hat. Zu erwarten ist, dass noch mehr Menschen aus Syrien und auch aus dem Irak fliehen werden, wo aufgrund der Kämpfe aus Mosul bereits Zehntausende geflohen sind. Die UN rechnet mit Hunderttausenden von Flüchtlingen und einer humanitären Krise in einem Land, wo jetzt bereits 10 Millionen Binnenflüchtlinge nur notdürftig versorgt werden können.

Dazu kommt der Konflikt im Süd-Sudan, während zunehmend mehr Menschen aus Burundi und dem Kongo nach Tansania fliehen. Die Aufnahmekapazitäten des Landes sind erschöpft, die Versorgung ist schwierig, da es zu wenig Geld gibt. Das Lebensmittelprogramm der UN, das World Food Programme, musste die Lebensmittelversorgung auf 60 Prozent des täglichen Bedarfs im Oktober kürzen. Mit der Regenzeit werden mehr Flüchtlinge erwartet.

Der erneut aufgebrochene Konflikt im Süd-Sudan, der 2011 zu einem eigenen Staat und vom Sudan unabhängig wurde (Frei, aber nicht unabhängig), führt zur Massenflucht nach Uganda. Im letzten Vierteljahr sind mehr als 170.000 Menschen aus dem Land nach Uganda geflohen, das aber längst an die Grenzen seiner Aufnahmekapazitäten gestoßen ist.

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