16. November 2016 · Kommentare deaktiviert für „Wie ein alter Fischkutter Flüchtlinge rettet“ · Kategorien: Libyen, Mittelmeer · Tags:

Quelle: Frankfurter Rundschau | 14.11.2016

Das Mittelmeer kann für afrikanische Flüchtlinge der Weg in ein neues Leben sein. Oder in den Tod. Ein Bericht von Bord des Rettungsschiffs „Sea Eye“ vor der libyschen Küste.

Die „Sea Eye“ liegt im Hafen von Malta. In einem riesigen Trockendock gleich nebenan wird gerade der Schiffskörper der „Martha Ann“ aufgefrischt. Größer kann der Kontrast kaum sein, anschaulicher ist der Zustand der Welt kaum abzubilden. Hier ein rostiger ehemaliger 26-Meter-Fischkutter, der jetzt als Flüchtlingsretter vor der libyschen Küste kreuzt; daneben die tiefblaue luxuriöse Charter-Jacht mit schneeweißen Aufbauten, 70 Meter lang, jeder Meter kostet eine Million Dollar.

In einem anderen Trockendock spritzt die Besatzung der „Sea Eye“ mit dem Wasserschlauch die Schwimmwesten ab, die im Einsatz waren, und hängt sie zum Trocknen in die maltesische Sonne. Am Morgen erst ist das Flüchtlingsrettungsboot von einem vierzehntägigen Einsatz vor der libyschen Küste nach Malta zurückgekommen. Es war die zwölfte Mission in diesem Jahr. Nachdem tagelang weit und breit kein Flüchtlingsboot zu sehen war, machten sich plötzlich annähernd 6000 Flüchtlinge fast gleichzeitig auf die Reise. 900 Rettungswesten verteilte die Crew an Flüchtlinge in Seenot, acht Schlauchboote versorgte sie so. Bis auf eine junge Afrikanerin, 17 Jahre alt, der auch eine schnelle Herzdruckmassage an Bord nicht mehr half, überlebten alle.

Am Vormittag läuft ein weiteres Rettungsschiff, die „Minden“, im Hafen ein und macht gleich neben der „Sea Eye“ fest. Die Leute kommen von Bord, man trifft sich, raucht zusammen eine Zigarette, redet ein bisschen. Eine Krankenschwester aus der Schweiz hat 21 Leichen aus einer Rettungsinsel geborgen. Knietief stand sie im Wasser, als sie die Menschen untersuchte und ihnen schließlich die Leichensäcke überstreifte. Mit ausdruckslosen Augen erzählt sie davon, sagt, sie könne jetzt nicht nach Hause, am liebsten würde sie gleich noch einmal in einen Einsatz gehen. Um Gottes Willen, sagen ihre Crewmitglieder, sie braucht jetzt nichts als selbst Hilfe. Der Kapitän der „Minden“ führt die Frau sanft zur Seite.

Auf der „Sea Eye“ ist Crew-Wechsel, die alte Mannschaft übergibt das Schiff an die neue, die am nächsten Morgen Richtung Libyen aufbrechen wird. Neun Leute gehören auf dieser 13. Mission zur Crew, acht Seeleute auf Zeit und Ingo, der Maschinist. Ingo, ein untersetzter 46-jähriger Sassnitzer mit Armen wie ein Gewichtheber, fährt seit fast zwanzig Jahren auf solchen Schiffen, die in der DDR für den Fang von Dorsch und Hering in der Ost- und Nordsee gebaut wurden. 100 Tonnen Fisch passen in den Bauch des Schiffs, jetzt lagern dort Hunderte Schwimmwesten. Nichts ist auf dem Schiff so wichtig wie die Maschine, die rund um die Uhr Öl und Fett braucht. Pferdchen füttern, nennt Ingo das. Als der Regensburger Unternehmer Michael Buschheuer die „Sea Eye“, die damals noch „Sternhai“ hieß, im vorigen Jahr in Sassnitz von einem alten Fischer für die von ihm gegründete Flüchtlingsinitiative erwarb, überredete er Ingo, als Dauermaschinist an Bord zu bleiben. Ingo sagte zu. Seither hat er kaum einen Fuß auf Land gesetzt.

Jetzt wartet Ingo auf ein paar Keilriemen, die er in Deutschland bestellt hat. Ohne Keilriemen liefert der Generator keinen Strom. Die neue Crew besichtigt das Schiff. Ein winziges Klo, ein winziger Waschraum, der zugleich Dusche für die Mannschaft ist, enge Schlafräume, vier Betten auf Deck. Hannes, der neue Skipper, teilt die Wachen auf der Brücke ein und verteilt die Aufgaben für das neue Team: Hilde wird mit Raphael, einem Pariser Fotografen, das Schlauchboot fahren. Karsten und Manuela sind die Besatzung an Deck. Jens kocht für die Mannschaft. „Ditsche“ übernimmt die Kommunikation zwischen Brücke und Schlauchboot. Ich werde Hilde im Schlauchboot zugeteilt.

Hektik ist gefährlich

Maschinist Ingo kommt in ölfleckigen, ausgebeulten Trainingshosen, die er während der Fahrt nicht ausziehen wird, T-Shirt und Gummischlappen an Deck und zeigt der neuen Mannschaft, wie man mit Hilfe eines Krans das Schlauchboot zu Wasser lässt. Das Boot wird ein paar Mal hoch und runter gehievt, Ingo flucht, wenn es nicht gleich flutscht, irgendwann ist er zufrieden. Hilde fährt mit ihrer Mannschaft für ein paar Rettungsübungen aus dem Hafen hinaus auf das offene Meer. Wir üben, wie man ein Schlauchboot voller Flüchtlinge zunächst ein paar Mal umkreist, mit ihnen redet, um Vertrauen aufzubauen, sie beruhigt. Nichts ist gefährlicher als Hektik. Dann nähern wir uns mit unserem Bug dem Heck des anderen Bootes, halten losen Kontakt, so, dass wir nicht geentert werden können. Stück für Stück reichen wir die Rettungswesten, die wir an Bord haben, hinüber. Mit zwei Plastikkanistern, die das andere Boot markieren sollen, üben wir das immer wieder.

Die Mannschaft der Mission 13 ist wie all die anderen Missionen zuvor ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Man bewirbt sich beim Verein Sea Eye, mancher hat Seeerfahrung, mancher nicht. Hannes, Skipper aus Rostock mit schulterlangem Haar, ist neben Ingo der einzige Profi an Bord. Hannes hat vier Jahre Nautik und Seeverkehr studiert und ist sechs Jahre, zuletzt als Erster Offizier, für Hapag Lloyd mit Containerschiffen um die Welt gefahren. Jetzt ist er gerade erst 29 und hat die Berufsseefahrt schon hinter sich gelassen. Er studiert noch mal was Neues, Umwelt-Ingenieurwissenschaften. Hannes engagiert sich bei der Flüchtlingsinitiative Rostock hilft. „Politischer Steckbrief: antikapitalistisch, antirassistisch, antinationalistisch“, sagt er.

Hilde ist Berufsschullehrerin aus Köln und erfahrene Seglerin. Karsten arbeitet als Controller bei einem norddeutschen Mineralwasserproduzenten. Jens ist Sozialarbeiter aus Hamburg. Dieter, linker Berufsaktivist aus Westfalen, den alle nur „Ditsche“ nennen, ist nach dem G8-Gipfel in Rostock hängengeblieben. Nach Malta ist er mit der Fähre von Sizilien gekommen, wo er die Flüchtlingssituation in den Lagern untersucht hat. Manuela ist frühpensionierte Polizistin aus Bayern. Alle haben ihren Flug selbst bezahlt und arbeiten unentgeltlich. Der Job auf See wird über Spenden finanziert.

Karsten kennzeichnet mit Schablone und Spraydose 200 Schwimmwesten, die Sea Eye neu angeschafft hat. Sieben Euro kostet eine der grellorangenen Westen aus griechischer Fabrikation: einfach, aber ausreichend. Doch für die Schlepper ist das schon eine Investition zu viel. Sie schicken die Flüchtlinge ungeschützt aufs Meer, so passen auch mehr Leute auf die Schlauchboote.

Am nächsten Tag sind die Keilriemen da, Ingo baut sie ein. 8500 Liter Diesel und 6500 Wasser werden gebunkert, am späten Abend legt die „Sea Eye“ ab und verlässt Malta Richtung Libyen. 180 Seemeilen von Nord nach Süd bei gut sechs Knoten, das dauert etwa 30 Stunden, eine Nacht, einen Tag, noch eine Nacht. Draußen ist die See bewegter als im Hafen. Windstärke zwei bis drei, das ist nicht viel, aber der alte Kutter rollt und schwankt, ein paar der neuen Crewmitglieder kotzen über die Reling. Wer Dienst hat, schiebt Wache auf der Brücke, jeweils drei Stunden, die Schiffsführer Hannes und Hilde je sechs. Wer wachfrei ist, raucht achtern noch eine Zigarette in der warmen Nacht oder schläft in der Messe oder draußen auf Deck. Getrunken wird Kaffee, Wasser oder Saft, Alkohol ist untersagt.

Die Überfahrt verläuft dann ruhig, keiner ist mehr seekrank. Den ganzen Tag ist kein anderes Schiff zu sehen. Der Skipper lässt „Mann über Bord“ üben. Abends gibt es Wraps, Falafel und Couscous. Der Tag geht, die Nacht kommt, die Nacht geht, der Tag kommt, der ewige Rhythmus auf See. Bei Wache mit Sonnenuntergang und Sonnenaufgang kann man ihn am besten erleben.

Zwölf Seemeilen vom Land entfernt verläuft die Grenze der libyschen Hoheitsgewässer. Wir kreuzen 16 Seemeilen vor der Küste, die 1700 Kilometer lang ist und seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes vor fünf Jahren kaum kontrolliert wird. Zwischen fünf und neun Uhr am Morgen soll das Gros der Flüchtlinge kommen. Die Wachen suchen von der Brücke aus das Meer nach ihren Booten ab, aber es zeigt sich keines. Wahrscheinlich, weil der Wind auflandig und zu stark ist. Der Flachwasserstreifen an der Küste ist 500 Meter breit, da kann sich eine auf dem Meer harmlose Welle schnell mal zu zwei bis drei Meter Höhe aufbauen. Kein Schlauchboot kommt da weg. Es kann aber auch sein, dass es im Gebiet östlich von Tripolis keine Menschenschlepper mehr gibt, weil die Benzinschmuggler die Route übernommen haben. Ein Hafenarbeiter auf Malta hatte das erzählt. Viele Informationen schwirren zwischen den Küsten herum, vage und nur schwer zu verifizieren.

Am Vormittag funkt die Leitstelle in Rom, ein Schiff habe einen Notruf gesendet, weit östlich, acht Stunden von unserer Position entfernt. Außer uns ist nur noch ein anderes Rettungsschiff in der Nähe. Wir ändern sofort den Kurs und fahren los. Es kann jetzt um Minuten gehen. Rom funkt neue Koordinaten. Wir fahren fast sieben Knoten, viel zu langsam, aber die Maschine kommt an ihre Grenzen. Mehr geht nicht.

Ein Dutzend Schiffe nichtstaatlicher Organisationen und Vereine patrouilliert seit dem vergangenen Jahr im Mittelmeer, sie heißen „Aquarius“, „Bourbon Argos“, „Phoenix“ oder „Golfo Azzuro“, „Sea Watch“ und „Juventa“, und sie fahren für Ärzte ohne Grenzen, SOS Méditerranée oder Vereine wie Sea Eye oder Jugend rettet. Manche Schiffe nehmen die Flüchtlinge direkt an Bord. Andere, kleinere, wie die „Sea Eye“, verteilen Rettungswesten und Wasser, wenn sie auf ein Flüchtlingsboot treffen und warten dann, bis weitere Hilfe kommt, zum Beispiel die italienische Küstenwache. Das kann schnell gehen, manchmal aber auch Stunden dauern. Eine Zentrale in Rom koordiniert die Einsätze.

Es wird ernst

Es ist schon dunkel, als wir auf das hölzerne Boot treffen, das rot, weiß und blau im Meer schaukelt. Die „Vos Hestia“ von der Organisation Save the Children, ein großes Schiff, das Hunderte Flüchtlinge aufnehmen kann, ist schon da, sie hat die ersten Westen verteilt und mit der Rettung begonnen. Unsere Aufgabe ist es, die Flüchtlinge von ihrem Boot hinüber zur „Vos Hestia“ zu bringen. Wir lassen das Schlauchboot ins Wasser, fahren zu dem dicht besetzten Kahn, legen uns an die Bordseite und werfen zwei Leinen hinüber. Einer der Jungs auf dem Kahn reicht mir seine Hand, wir verhaken unsere Finger, die Boote bleiben dicht beieinander, die ersten Flüchtlinge steigen zu uns hinunter ins schwankende Schlauchboot. Sieben Flüchtlinge jeweils nehmen wir auf, hagere, von der langen Flucht gezeichnete junge Männer in abgerissenen Jeans und T-Shirt, oft barfuß, ohne Gepäck. Nicht mal einen Stoffbeutel oder eine Plastiktüte haben sie dabei.

Wir sprechen kaum in den zwei, drei Minuten, die die Fahrt zu dem rettenden Schiff jeweils dauert, nur dass sie aus Eritrea kommen, erfahren wir. Eritrea, ein kleines Land im Osten von Afrika. Seit 23 Jahren regiert dort der Diktator Isayas Afewerki. Ein Zehntel der vier Millionen Einwohner zwingt er, einen Nationaldienst zu leisten, zwischen 18 und 50 Jahre alt sind die Rekruten. Auch Minderjährige müssten ein militärisches Training über sich ergehen lassen. Sie bewachen die Grenze zu Äthiopien oder schuften auf den Feldern der Großgrundbesitzer. Wer nicht spurt, wird zur Erziehung in Erdlöcher gesperrt oder in Schiffscontainer, die in der Wüste stehen. Um dem zu entgehen, machen sich jeden Monat etwa 5000 Eritreer mit Hilfe von Schleppern auf die Flucht durch den Sudan und die libysche Wüste bis ans Meer, das sie nach Sizilien bringen soll. Ihre wichtigsten Zielländer in Europa sind Schweden, Deutschland, die Schweiz, die Niederlande und Norwegen.

Mein Handlanger an Bord harrt diszipliniert auf dem Boot aus, bis die letzten Flüchtlinge den Holzkahn verlassen hat, dann steigt auch er über. Wir lösen den Griff. Drei Minuten, ein kurzer Blick, weg ist er. Ich weiß nicht, woher er kommt, was er erlebt hat auf der Flucht. Aber ich kenne die Berichte von Gewalt und Folter, von Vergewaltigung und Erpressung, mit der die Schlepper und Schleuser ihr Geschäft betreiben. Ich kenne sein Ziel nicht, seine Hoffnungen. Ich weiß nicht einmal seinen Namen. Wir sitzen ja eigentlich nicht im selben Boot.

Die „Vos Hestia“ wird die Flüchtlinge nach Italien bringen. In Sicherheit. Vielleicht ist das ja schon viel. Sie werden nicht zu den 3600 armen Seelen zählen, die die Überfahrt allein in diesem Jahr nicht überlebt haben; 1:40 ist die Überlebenschance auf dem Mittelmeer. 165 000 Menschen, die es geschafft haben, warten in überfüllten Lagern auf Lampedusa und Sizilien auf Auskunft zu ihrem Asylantrag. Eritreer haben gute Aussichten, nicht abgeschoben zu werden. Die meisten Afrikaner sind Wirtschaftsflüchtlinge und haben keine Chance.

Wir fahren zurück zur „Sea Eye“, kranen das Boot hoch, gehen wieder auf Kurs. Wie eine Fata Morgana wirkt das leere Holzboot, das in der Dunkelheit des Mittelmeers verschwimmt. Am nächsten Morgen funkt ein Kriegsschiff der italienischen Marine, sie würden jetzt mit einer „Live fire exercise“, einer Übung mit Munition, beginnen, gibt die Koordinaten an und warnt alle umliegenden Schiffe, drei Seemeilen Abstand zu halten. Vielleicht werfen sie ja nur ein paar Eimer ihrer stark brennbaren sogenannten Nato-Paste auf das verlassene Holzboot, setzen es in Brand und versenken es. Das macht man hier so mit Schlepperbooten.

Hilde, die Schlauchbootfahrerin, hat morgens bei unserer gemeinsamen Wache darüber gesprochen, wie sehr sie die Augen der jungen Eritreer auf dem Holzboot berührt hätten. Traurige Augen. Hilde erzählt, dass sie eher aus Zufall auf dem Schiff mitfährt. Sie ist gerade in einem Sabbatical, hat von „Sea Eye“ gelesen und gedacht: Warum nicht, das könnte eine wichtige Erfahrung werden. Sie sehe vieles an Angela Merkels Flüchtlingspolitik kritisch, aber dafür könnten die armen Kerle nicht, die im Mittelmeer ersaufen. Also entschied sie sich, beim Retten zu helfen. Eine langjährige Freundin hat ihr die Freundschaft gekündigt, als sie ihr davon erzählt hat. Hilde empört so ein Mangel an Respekt.

Es gibt einen neuen Kontakt, wir fahren los. Als wir ankommen, sind schon andere Retter vor Ort. Jeder will der Erste sein. Gerade, wenn nicht viel los ist auf dem Meer, wird Flüchtlingsrettung mitunter zum Wettbewerb unter den Rettern. Gute Zahlen bringen gute Spenden in Deutschland. Diesmal stellt sich heraus, dass es sich um ein Fischerboot handelt. Fehlalarm.

Freiwache, und keine Boote in Sicht. Ein kleiner Vogel, der aussieht wie eine Bachstelze, stolziert über das Deck. Mit dem Wind ist er wie der Saharasand auf das Meer gekommen und versucht zu überleben. Lesezeit. Der Soziologe Gunnar Heinsohn schreibt, dass sich Afrikas Bevölkerung seit 1950 von 180 auf 960 Millionen vergrößert hat. In 35 Jahren sollen es 2,1 Milliarden Menschen sein. Von den jungen Afrikanern wollen ungefähr 400 Millionen nach Europa, junge Männer meist, zweite, dritte und vierte Söhne, denen in der Heimat der Aufstieg verwehrt ist. Im Jahre 2050 könnten es fast eine Milliarde Männer und Frauen sein. Aber Europas Bedarf an Arbeitskräften wird dann nur ein Viertel davon betragen. Wenn überhaupt.

900.000 Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Gambia, Nigeria, Sudan und Mali sollen in Libyen festsitzen, ohne Jobs und Geld. Sie haben nur ein Ziel: Europa. Doch lediglich etwa 200.000 Flüchtlinge können sich die Überfahrt nach Italien leisten, die zwischen 1000 und 1500 Dollar kostet. Wer nicht zahlen kann, verelendet als Arbeitssklave in Libyen.

Was geht uns das an? Wir diskutieren an Bord viel über die Fäden, die Europa und Afrika miteinander verbinden. Über die Frage, wie man Massenflucht verhindern kann. Die Antworten reichen von linken Utopien offener Grenzen bis zu Ratlosigkeit. Die EU beginnt gerade, auf Schiffen tausend libysche Küstenschützer zu trainieren, auch Deutschland beteiligt sich. So schnell es geht, sollen sie in die Lage versetzt werden, ihre Gewässer selbst zu sichern. Weniger, um Flüchtlinge zu retten – eher, um Europa effektiver abzuschotten vor den Flüchtlingsströmen. Auch ein Zeichen von Ratlosigkeit. Ungarns Präsident Viktor Orbán will an der libyschen Küste eine riesige Flüchtlingsstadt errichten. Aber niemand sonst will das. Entwicklungsmillionen für Afrika versickern in Kanälen der Korruption, und an einen Marshall-Plan ist nicht zu denken. Millionen Afrikaner werden weiter Schutz suchen wie der kleine Vogel, der mit dem Saharasand gekommen ist.

Im Meer schaukelt ein verlassenes Flüchtlingsboot. Es ist acht bis zehn Meter lang, made in China, hinten am Spiegel hängt ein 40-PS-Yamaha-Enduro-Motor. Auf den Boden des Schlauchbootes sind lange Bohlen geschraubt, um es zu stabilisieren. Die Schrauben ragen wie Dornen zehn Zentimeter ins Schiffsinnere. Ein paar Spritkanister liegen im Boot. Benzin und Salzwasser, das ist eine teuflische Kombination. Vermischen sie sich, und das passiert leicht beim Nachfüllen auf hoher See, kommt es bei Hautkontakt zu schweren Verätzungen, man kann die Haut der Opfer in Streifen vom Fleisch ziehen.

Wo sind die Flüchtlinge? Das Rettungsschiff „Juventa“ der Initiative Jugend rettet kreuzt nach einiger Zeit auf, sie haben die Flüchtlinge am Vormittag aus dem Boot geholt und sind dann zu einem anderen Einsatz gefahren. Jetzt bergen sie das verlassene Schlauchboot, sie wollen es später nach Berlin bringen, um zu zeigen, was für ein Höllentrip die Reise über das Meer ist. Seit die Rettungsboote schon nach ein paar Seemeilen auf dem Meer auf die Flüchtlinge warten, investieren die Schlepper immer weniger in seetaugliches Material. Schiffen wie der „Sea Eye“ wird vorgeworfen, von den Schleppern wie eine Art Taxiunternehmen genutzt zu werden, das die Kundschaft kostenlos vor der libyschen Küste abholt. Ganz von der Hand zu weisen, ist das nicht. Aber so lange es keine sicheren Fluchtrouten gibt, bleibt kaum eine Alternative.

Rückkehr nach Malta nach gut zwei Wochen auf See. Rückkehr in den sicheren Hafen Europa. Hannes, der Skipper, will in Deutschland noch ein paar Tage Transportjobs machen, um sein Studium zu finanzieren. Hilde bereitet sich auf einen langen Segeltörn in der Karibik vor. Manuela, die frühpensionierte Polizistin, macht noch Urlaub auf Malta. Karsten freut sich schon auf seinen Hund, Ingo auf Landurlaub in Sassnitz. Ditsche, der linke Aktivist, will sich noch mal in den Flüchtlingscamps auf Sizilien umschauen.

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