02. November 2016 · Kommentare deaktiviert für „Tod eines Fischhändlers: Marokko begehrt auf“ · Kategorien: Marokko · Tags:

Quelle: NZZ

In Marokko gehen wieder Zehntausende auf die Strasse. Sie stossen sich an Polizeiwillkür und Korruption.

Der ungeklärte Tod eines Fischhändlers hat am Wochenende in Marokko Proteste auflodern lassen, die an die Aufstände von 2011 erinnern. Am Freitag war der Fischhändler Mouhcine Fikri in der Mittelmeerstadt Hoceima vor den Augen vieler Umstehender in der Presse eines Kehrichtautos zerquetscht worden. Der Vorgang wurde gefilmt und kursierte im Internet, was eine massive Protestwelle auslöste. Tausende gingen in Hoceima auf die Strasse, aber auch in Casablanca, in der Hauptstadt Rabat und anderen Städten kam es zu Kundgebungen, an denen summarisch den Behörden die Schuld am Tod Fikris gegeben wurde.

Miserable Stimmung

Dies muss nicht zwingend der berühmte Funke im Pulverfass sein. Dass in Marokko eine zweite Arabellion ausbricht, ist unwahrscheinlich, dass der Maghreb oder gar die arabische Welt erneut in Brand geraten, schwer vorstellbar. Doch der Zorn des Volkes zeigt, wie viel im Argen liegt. Zwar kann sich Marokkos Elite rühmen, die Revolten von 2011 dank einem geschickten Mix aus Grosszügigkeit, Reformen und dosierter Selbstbezichtigung in eine «Thawra Silmiya», eine «Friedliche Revolution», abgedämpft zu haben. Im Vergleich zu Ländern wie Tunesien, Libyen, Ägypten oder Syrien ist es in Marokko sehr ruhig geblieben. Doch die Stimmung ist miserabel, was sich eben wieder bei der Parlamentswahl im Oktober gezeigt hat, als sich das Gros der Bürger verweigerte. Nur 43 Prozent gingen an die Urnen. Man traut der Elite um König Mohammed VI. ganz einfach nicht.

Das Misstrauen durchdringt fast alle Bevölkerungsschichten. Es richtet sich zum einen gegen die ideologisch bunt zusammengewürfelte Mannschaft von Premierminister Abdelilah Benkirane, noch mehr aber gegen den König und dessen Entourage, die als korrupt gilt und der vorgeworfen wird, sie nehme weit mehr Einfluss auf die Politik, als ihr verfassungsmässig zustehe. Mohammed hat routiniert reagiert. Der König, derzeit auf einer Afrikareise in Sansibar, befahl Innenminister Hassad und Vertretern der regierenden Partei Gerechtigkeit und Entwicklung, Fikris Familie einen Kondolenzbesuch abzustatten. Benkirane ordnete eine Untersuchung an und sagte, finde man Schuldige, würden sie hart bestraft. Inzwischen haben die Behörden elf Personen festgenommen und einem Untersuchungsrichter vorgeführt. Ihnen würden fahrlässige Tötung und Urkundenfälschung vorgeworfen, teilte der Generalstaatsanwalt von Hoceima am Dienstag mit. Unter den Verdächtigen seien mehrere Mitarbeiter der Verwaltung und der Fischereibehörde.

Ein tiefer liegendes Malaise

An der Oberfläche richtete sich die Wut der Demonstranten vor allem gegen die Willkür der Polizei. Doch natürlich verweist der Fall auf ein tiefer liegendes Malaise. Viele Bürger fühlen sich von den Behörden übergangen, und viele sehen ihre wirtschaftlichen Hoffnungen enttäuscht. Daran knüpft die «Bewegung 20. Februar» an, die seit 6 Jahren die Regierung kritisiert und die auch am Wochenende zu den neuesten Protesten aufrief. In der «Bewegung 20. Februar» hatten sich ursprünglich primär junge, übers Internet kommunizierende Menschen versammelt, die sich für die Volksaufstände in Tunesien und Ägypten begeisterten und für Freiheit und Demokratie kämpfen wollten. Religion war ihnen nicht überaus wichtig, insofern orientierten sie sich am säkularen Europa. Die Bewegung organisierte im Frühsommer 2011 riesige Demonstrationen und erhielt breite Unterstützung. Doch nachdem Mohammed VI. seine Verfassungsreformen angekündigt hatte, verlor die Bewegung an Schwung.

Die neue Herausforderung wird die regierenden Islamisten von Premier Benkirane vor einige Herausforderungen stellen. Benkirane hat vor kurzem den Regierungsauftrag erhalten, und derzeit tobt ein harter Kampf um Plätze in seinem Kabinett. Von einer konsolidierten, einigen Führung kann vorderhand keine Rede sein. Die Demonstrationen scheinen weiterzugehen. Auch am Dienstagabend kam es laut Gewährsleuten in Casablanca, Rabat, Tanger und anderswo zu Kundgebungen. Die Stimmung ist aufgeladen, immer wieder werden Parolen des Hasses wie «Tötet sie!» skandiert.

Dennoch deutet einiges darauf hin, dass Benkiranes Islamisten mit der Herausforderung fertig werden. Die jetzige Protestbewegung hat zwei Schwächen. Zum einen fehlen ihr die Islamisten, die in Marokko – die Wahlen haben es eben gezeigt – noch immer sehr stark sind. Die moderaten halten zu Benkirane, die radikalen können mit der modernistisch säkularen Grundausrichtung der Februar-Bewegung nichts anfangen. Das Aufbegehren geht, zweitens, wie schon 2011 von der Rif-Region aus. Diese war einst ein unabhängiger Staat, heute ist sie ein traditioneller Unruheherd. In den übrigen Regionen hegt man keine übertriebenen Sympathien für die Menschen aus der Rif-Region. Die Regierung ist gefordert. Vom 7. bis 18. November findet in Marrakesch eine internationale Klimakonferenz statt: Für Benkirane Anlass, alles zu tun, um die Lage zu beruhigen, für die Demonstranten Ansporn, durchzuhalten und ihre Anliegen vor ein ganz grosses Publikum zu tragen.

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