21. Oktober 2016 · Kommentare deaktiviert für „“Schlechte Zeit, jemanden nach Afghanistan zurückzuschicken““ · Kategorien: Afghanistan, Europa

Quelle: derStandard

Eine schnelle Verbesserung der Sicherheitslage in Afghanistan ist nicht in Sicht, sagt der Publizist Haseeb Humayoon

Afghanistan ist geprägt von Krieg und Gewalt: In 31 von 34 Provinzen gibt es Kämpfe, die Sicherheitslage hat sich in den vergangenen zwei Jahren verschärft, ein Drittel der Bevölkerung muss mit weniger als 1,35 Dollar am Tag auskommen. Haseeb Humayoon, afghanischer Publizist und Mitbegründer der Jugendorganisation 1400, kann die Fluchtbewegung aus Afghanistan nachvollziehen, versteht aber auch die Überforderung der Aufnahmegesellschaften.

STANDARD: Die EU und Afghanistan haben sich trotz der instabilen Lage in Afghanistan auf ein Abkommen geeinigt, das Abschiebungen nach Afghanistan erleichtern soll. Wie schätzen Sie diesen Deal ein?

Humayoon: Einerseits sieht man natürlich die Großzügigkeit europäischer Staaten: dass den Menschen erlaubt wurde, hier zu sein und hier zu leben. Es ist nicht leicht für Europa und für die Menschen hier, sich mit dieser Fluchtbewegung zu arrangieren. Es ist auf viele Arten überwältigend. Bei den Asylverfahren geht es darum, dass man einige Fakten nur schwer abstreiten kann. Fakt ist, dass in Afghanistan Krieg herrscht. Wir müssen ihn beenden, wir arbeiten daran, aber wir haben es noch nicht geschafft. Fakt ist, die Gewalt hat in den vergangen zwei Jahren extrem zugenommen. Das macht es schwierig für mich zu sagen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sei, jemanden zurückzuschicken. Diese Menschen haben einen Kredit aufgenommen oder ihr Haus verkauft und eine sehr beschwerliche Reise hinter sich gebracht. Sie würden mehr oder weniger ins Nichts zurückkehren.

STANDARD: Das Abkommen kommt also zum falschen Zeitpunkt?

Humayoon: Ich verstehe das Politische dahinter. Die Fälle von Kriminalität unter afghanischen Flüchtlingen sind beschämend, das schafft natürlich Probleme, und ich verstehe die Notwendigkeit eines solchen Abkommens. Wir arbeiten daran, den Krieg und die Gewalt in Afghanistan zu beenden. Wenn das funktioniert, ist die Umsetzung des Abkommens natürlich willkommen. Aber wenn die Schwierigkeiten anhalten, sollten wir unsere Kräfte bündeln und uns fragen, wie wir den Menschen, die nach Europa gekommen sind, vermitteln können, verantwortungsbewusste Beitragende zur Gesellschaft zu sein und die Gastfreundschaft und die Werte zu respektieren. Nützlicher als ein Terminal für Abschiebeflüge in Kabul wäre also die Unterstützung einer Initiative, die Flüchtlingen Verhalten und Werte näherbringt.

STANDARD: Sind Änderungen der EU-Einwanderungspolitik ein Thema, dem in Afghanistan Beachtung geschenkt wird?

Humayoon: Die Menschen wissen es zunehmend. Die Idee einer Flucht nach Europa wurde zunächst als hundertprozentige Erfolgsgeschichte gesehen. Aber es gibt immer mehr Erzählungen von Schwierigkeiten, verlorenen Familienmitgliedern, Ertrinken und fehlender Garantie, dass man auch aufgenommen wird, wenn man einmal in Europa ankommt. Die Wahrnehmung hat sich vor allem in den letzten Monaten verändert.

STANDARD: Österreich hat eine Kampagne in Afghanistan geschalten, die Menschen von einer Flucht nach Österreich abhalten sollte. Hatte das Auswirkungen?

Humayoon: Viele beeinflusst so eine Kampagne nicht. Sehr viel wirkungsvoller sind die Geschichten von Flüchtlingen: also Erzählungen von der Route, von Katastrophen, die den Menschen widerfahren. Das heißt nicht, dass nicht trotzdem genug Leute das Risiko auf sich nehmen, aber es hat stark abgenommen.

STANDARD: Es gibt immer wieder Vorwürfe an Flüchtlinge, sie sollten in ihrer Heimat bleiben und sich dort bemühen, eine Zukunft aufzubauen. Ist das in Afghanistan möglich?

Humayoon: Wenn sie es schaffen, die Risiken zu kalkulieren und die Mittel für die Flucht zusammenzubekommen, dann reicht eine eher bevormundende Geschichte darüber, dass man zu Hause bleiben und dort kämpfen sollte, nicht. Es bräuchte eine langfristige strukturelle Arbeit daran, um Afghanistan dabei zu helfen, Bedingungen zu schaffen, in denen Menschen bleiben können.

STANDARD: Auf einer Konferenz in Brüssel wurde beschlossen, Afghanistan in den kommenden vier Jahren mit 15,20 US-Dollar zu unterstützen. Reicht diese Summe? Humayoon: Das ist ein großer Erfolg für Afghanistan. Der Ball ist nun in unseren Händen, wir müssen das Geld gut verwenden. Hier geht es darum, die Regierung am Laufen zu halten und der Wirtschaft wieder etwas Schwung zu verleihen. Die Frage der Sicherheit ist aber auch wesentlich.

STANDARD: Wie kann die Sicherheitslage verbessert werden?

Humayoon: Dafür gibt es keine Wunderwaffe, keine schnelle Lösung. Unsere eigene Politik zu reparieren ist wichtig, und auch die Bestätigung der internationalen Gemeinschaft, dass sie Afghanistan weiter unterstützt. Der Druck auf Pakistan müsste erhöht werden, damit die Unterstützung des Terrorismus geringer wird. Zugleich müssten wir zu unserer verfassungsmäßigen Ordnung zurückkehren, derzeit ist es mehr ein außerverfassungsmäßiges Arrangement, und das verursacht natürlich Unsicherheit.

STANDARD: Fließen die internationalen Gelder in die richtigen Kanäle?

Humayoon: Ich bin dankbar für die Höhe der Unterstützung, die Afghanistan in den vergangenen 15 Jahren zugekommen ist. Sie hatte massive sichtbare und langfristige Auswirkung auf unsere Gesellschaft. Von Schulen, Kliniken und Straßen über eine Unterstützung von Regierungsinstitutionen bis hin zu den Sicherheitskräften. Hätten wir das Geld vernünftiger oder klüger einsetzen können? Natürlich, aber hinterher ist man immer klüger. Fakt ist, die Unterstützung der letzten 15 Jahre war keine Verschwendung. Sie hat Leben gerettet, die Bedingungen für Frauen verbessert, es gibt Pressefreiheit und mehr Chancen im Bildungsbereich als jemals zuvor.

STANDARD: Afghanistan ist von der internationalen Gemeinschaft komplett abhängig – wird sich das in naher Zukunft ändern?

Humayoon: Wir werden von der internationalen Unterstützung noch für mindestens ein Jahrzehnt abhängig sein – vorausgesetzt, wir reißen uns am Riemen. In diesem Jahrzehnt müssen wir politisch das Richtige tun, also eine Strategie finden, die Gewalt und Krieg beendet. Danach müssen wir in die Industrie investieren, uns in der Region als wirtschaftlicher Faktor positionieren.

STANDARD: Beinhaltet ein Ende des Krieges Friedensgespräche mit den Taliban? Der „Guardian“ berichtete kürzlich von einer neuen Initiative, die die Taliban aber dementierten.

Humayoon: Alle Kriege müssen enden – und natürlich sind es Gespräche, die zu diesem Ende führen. Die Taliban kontrollieren große Teile des Landes, sind zuversichtlich und überzeugt, was ihre Ideologie betrifft. Und sie haben auch Unterstützung in der Bevölkerung. Sie zu bekämpfen wird zunehmend schwierig, weil sie der ländlichen Bevölkerung sehr ähnlich sind – sie repräsentieren sie nicht, aber sie ähneln ihr. Durch einen andauernden Krieg mit einer solchen Gruppe riskiert man humanitäre Katastrophen. Wir haben den Luxus nicht, Gespräche mit ihnen nicht zu erwägen. Wir wünschen uns natürlich, dass die Taliban kein Faktor sind, dass man sie besiegen und vertreiben könnte, aber sie haben in den vergangenen 15 Jahren bewiesen, dass sie beständig und widerstandsfähig sind – wir werden schwächer.

STANDARD: Würden die Taliban Gesprächen überhaupt zustimmen, wenn sie in einer ganz guten Position sind?

Humayoon: Es gibt hier schon Bewegung. Die Taliban sind jetzt auch eine mobilere Gruppe als zuvor und haben zum Beispiel ein Verbindungsbüro in Doha.

STANDARD: Wie aktiv ist der „Islamische Staat“ in Afghanistan? Handelt es sich hier um neue Gruppen, oder sind es vorhandene, die nun unter IS-Label operieren?

Humayoon: Es ist ein Rebranding alter Milizen, großteils mit Verbindungen zum „üblichen“ Extremismus und den militanten Strömungen der Region – es ist nur eine neue Flagge. Ihr Einfluss ist auf weniger als fünf Bezirke beschränkt, aber wegen der globalen Aufmerksamkeit, die auf die Gruppe gerichtet ist, erhalten sie mehr Schlagzeilen. Im Kampf gegen den IS ist es aber wichtig, sie nicht zu deterritorialisieren; wir sollten sie nicht in irgendeinem Gebiet anerkennen, in dem sie nicht entstanden sind. In dem Moment, in dem sie zu einer Organisation mit Zweigstellen überall auf der Welt werden, wird es sehr schwierig, sie zu bekämpfen. Es gibt aber Tendenzen in Medien und in der Politik, den IS auch gleich anzuerkennen, sobald jemand eine IS-Fahne hat. Wir haben es in Afghanistan schon sehr lange mit solchen Verrückten zu tun und wollen sie nicht deterritorialisieren – es ist ein Problem, das Syrien und den Irak sehr viel stärker betrifft. Für uns sind das die gleichen alten Kämpfer.

STANDARD: Kann man Radikalisierung in dem von Krieg und Gewalt gezeichneten Afghanistan verhindern?

Humayoon: Wir haben einen andauernden Kampf im Land zwischen moderater und extrem radikaler Lebensweise, aber Gewalt und der Terror sind keine Produkte dieser gesellschaftlichen Dynamiken. Sie sind organisiert, ausgereift und politisch. Die Menschen, die unter diesen Verhältnissen leben, sind allerdings anfällig für Radikalisierung. Radikale Gruppen und Organisationen können ihre Schwäche ausnutzen – und das tun sie seit Jahrzehnten.

Haseeb Humayoon (29) ist afghanischer Publizist und Mitbegründer der Jugendorganisation „Afghanistan 1400“ – einer zivilen und politischen Bewegung mit dem Ziel, eine politische Plattform für junge Afghanen jenseits von Sektierertum und Gewalt zu schaffen. Er lebt in Kabul. In Wien war er auf Einladung des Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC).

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