20. Oktober 2016 · Kommentare deaktiviert für „Willkommenskultur auf Italienisch: Ein Palazzo für die Flüchtlinge“ · Kategorien: Europa, Italien

Quelle: Spiegel-Online

Immer mehr Flüchtlinge kommen übers Mittelmeer – und Italiens Auffanglager sind längst überfüllt. Weil der Staat nicht weiter weiß, organisieren Bürger die Integration nun selbst.

Von Hans-Jürgen Schlamp, Florenz

Als Abdourahmane in Florenz ankam, wollte er nur eines: weg!

Ein Bus hatte ihn mit 30 anderen afrikanischen Flüchtlingen von Sizilien in die Toskana gebracht. „F“ stand auf ihrem Transportschein. Dass damit Florenz gemeint war, erfuhren sie erst vor Ort. „Morgens sind wir lange durch die Stadt gefahren“, erinnert sich der Senegaler. „Dann ging es plötzlich in den Wald, und wir dachten, was ist jetzt los, wo kommen wir hin? Wir hatten Angst. Einer schrie: Gibt’s hier Löwen?“

Vor einem großen alten Haus, verloren zwischen Bäumen, stiegen sie aus, in der großen Eingangshalle schmückten Malereien die Wände. Und ein Kreuz. „Das ist eine Christen-Kirche“, dachte Abdourahmane, „da kann ich nicht bleiben, ich bin doch Moslem!“

Jetzt lebt er seit gut einem Jahr in dem monumentalen Bau aus dem 16. Jahrhundert und ist sehr froh darüber. Es ist kein Gotteshaus, sondern war einst Palazzo einer Florentiner Adelsfamilie, der irgendwann in den Besitz des Staates gelangte. Der machte eine Jugendherberge daraus, das Ostello Villa Camerata, in der nun etwa hundert junge Asylbewerber aus afrikanischen Ländern, aus Pakistan und Afghanistan gemeinsam mit bis zu 200 Touristen aus aller Welt übernachten, essen und oft auch diskutieren.

Die kleine Vielvölkerwelt trägt den Projekttitel „Solidarische Aufnahme“ und wird von der Italienischen Vereinigung für Kultur und Sport (AICS) und dem Verband der Jugendherbergen (aig) betrieben. Letztere stellen die Unterkunft und die Verpflegung. Die anderen vermitteln den Fremden die Grundlagen für ein Leben in Italien: Sprache, Regeln eines friedlichen Zusammenlebens, Kontakte zu Behörden, Gewerkschaften und Kirchen und überhaupt zu möglichst vielen Menschen. „Die Flüchtlinge sind kein Kostenfaktor, sondern eine Ressource für unser Land“, sagt Projektleiterin Valeria Gherardini.

Keine Angst vor der Mafia

Die römische Regierung und viele Italiener sehen das ganz anders, halten ihr Land mit derzeit rund 150.000 Flüchtlingen für überlastet. Zumal man fürchtet, dass deren Zahl bis zum Jahresende sogar auf 200.000 wachsen könnte. Die Aufnahmekapazitäten reichen nicht, die Zustände in manchen Lagern sind erschreckend. Die lahme Bürokratie braucht zwei Jahre, um über einen Asylantrag zu entscheiden. Bis dahin hocken die meisten Antragsteller irgendwo herum oder arbeiten schwarz für fünf Euro am Tag. Legale Arbeit ist ihnen verboten. Staatliche Sprachkurse oder andere Bildungsangebote gibt es kaum.

Wo der Staat versagt, engagieren sich, auch das ist typisch italienisch, viele Menschen einzeln oder in Vereinen. Aus deren Ideen entstanden unterschiedlichste Projekte zur Integration von Flüchtlingen.

In Turin betreuen bereits ansässige Flüchtlinge die Neuankömmlinge aus Asien und Afrika; neben Kost und Logis bekommen sie dafür 1000 Euro im Monat.
Im kalabrischen Riace leben mehr als 500 Migranten ohne Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigung; der Bürgermeister hat ihnen halb verfallene Häuser und verwilderte Gärten überlassen und sie haben dem sterbenden Dorf neues Leben beschert.
Partnerschaften von Betrieben und Kommunen bieten berufliche Ausbildungsprogramme an.
In vielen Städten helfen Asylbewerber ohne Bezahlung bei der Stadtreinigung, als „Dankeschön für die Gastfreundschaft“.
In einer großen Kooperative in Kalabrien arbeiten junge Afrikaner auf beschlagnahmten Gütern der Mafia. Sie ernten Obst oder Wein, werden nach Tarif bezahlt und „helfen uns im Kampf gegen die Mafia“, sagt der Präsident der Kooperative, Domenico Fazzari, „denn sie haben, anders als wir, keine Angst vor der ‚Ndrangheta“.

Den Arno entmüllt

Stadtreinigung steht auch in Florenz auf dem Programm. Parks und Spielplätze haben die Asylbewerber dort gesäubert, die Ufer des Flusses Arno vom Müll befreit, Graffiti auf Hauswänden übermalt. Florentiner Bürger, die vorbeigingen, riefen „Bravo“. Und Drahmane fühlte sich „ganz stolz: Erst war alles dreckig, am Ende war alles sauber – und wir haben es gemacht!“

Drahmane, 28 Jahre alt, stammt von der Elfenbeinküste. Gemeinsam mit Omar, 20, wie sein Nachbar Mamadou, 23, aus Mali und dem Senegaler Abdourahmane, 34, sitzt er auf der Terrasse hinter der Herberge und erzählt von den ersten Debatten mit jungen Touristen. Dass die einfach aus Spaß um die Welt reisen, ist für sie unfassbar.

Im Mai haben sie in der Philharmonie gearbeitet, mit und für Studenten Stadtführungen gemacht, haben sich bei den „Trisome Games“, der Olympiade für Athleten mit Down Syndrom, nützlich gemacht. „Aber wir nehmen keinem Florentiner den Job weg“, betont Valeria Gherardini. „Wir unterstützen nur Vereine und Gruppierungen, die selbst ehrenamtlich aktiv sind.“

Gina aus dem Altenheim

Eine Woche lang waren sie sogar in einem katholischen Altenheim als Helfer der Helfer eingesetzt, haben dort geschlafen – und viel reden müssen. „Weißt du noch, die Gina?“ fragt Amadou seinen Landsmann Omar. „Na klar, Mann hat die uns mit Fragen gequält!“ Alle fanden die Gespräche mit Gina „toll“. Dabei sei die „doch 93 Jahre alt!“ Auch andere Heimbewohner waren begeistert, als sie die fremden Männer direkt vor sich hatten – und feststellten, dass die ganz nett und friedlich sein können.

Inzwischen gibt es auch in Neapel eine Jugendherberge für Touristen und Migranten. Weitere Städte sollen folgen. Denn das Konzept funktioniert. Die jungen Männer sprechen Italienisch, manche besser, manche holperiger. Sie haben Einführungskurse für etliche Berufe belegen können, für Mechaniker, Elektriker, Gärtner. Es gab viele Sportangebote – Kricket für die Pakistaner, Fußball für die Afrikaner – und sogar einen Kurs zur Ausbildung als Schiedsrichter.

Nur ein Problem kann auch dieses Modellprojekt nicht lösen: Was geschieht, wenn der Asylantrag am Ende abgelehnt wird?

Auch dann gehe er nicht zurück, sagt Abdourahmane. Zurückzugehen, das sei „wie sterben“. Die anderen denken genauso: „Zurück nie!“ Aber was stattdessen werden soll, wissen sie nicht.

Zusammengefasst: Zehntausende Flüchtlinge warten in Italien auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge. Doch die Behörden arbeiten quälend langsam. Manche Bürger, Vereine und Verbände engagieren sich auf eigene Faust – und schaffen so wertvolle Programme für die Flüchtlinge. Manche säubern ihre Wohnorte, andere bekommen Berufstraining, alle lernen die Sprache. Doch von der Regierung fühlen sie sich kaum unterstützt.

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.