17. Oktober 2016 · Kommentare deaktiviert für „Durchgangsstation Lampedusa“ · Kategorien: Italien · Tags: ,

Quelle: NZZ

Die bessere Organisation der Behörden hat Lampedusa entlastet. Flüchtlinge werden in einem von der EU initiierten Hotspot registriert. Das dauert wenige Tage, dann geht die Reise ins Ungewisse weiter.

Die Dunkelheit ist über Lampedusa hereingebrochen, als das Boot der italienischen Küstenwache in die militärische Sperrzone am Ende des Hafens einläuft. Ein Handelsschiff hat an diesem Spätsommertag in den internationalen Gewässern zwischen Libyen und der südlichsten Mittelmeerinsel Italiens rund 1300 Bootsflüchtlinge aufgegriffen, die meisten von ihnen stammen aus dem subsaharischen Afrika. In kleinen Booten befördert die Küstenwache zuerst Kranke, Frauen und Kinder nach Lampedusa. Polizisten riegeln die Ankunftsstelle ab. Aus der Ferne ist zu erkennen, wie die Passagiere erschöpft an Land gehen. Wie Paolo Monaco, Kommandant der Küstenwache auf Lampedusa, später erzählt, hat eine Frau aus Mali im Boot der Küstenwache einen Jungen zur Welt gebracht. Am Hafen steht eine Ambulanz bereit, um Mutter und Kind in ein Spital zu fahren.

Überfüllter Hotspot

Seit der Tragödie vom Oktober 2013 mit rund 550 Ertrunkenen ist Lampedusa ein Symbol für die Flüchtlingskrise Europas. Drei Jahre später aber ist die Ankunft von mehr als 1000 Schiffbrüchigen an einem Tag aussergewöhnlich. «Lampedusa ist entlastet worden», sagt Monaco. Weder würden Leichen angeschwemmt, noch kämen Flüchtlingsschiffe an Land. Denn heute pferchen die Schlepper in Libyen die Passagiere meistens in Gummiboote, in denen sie die Fahrt nach Lampedusa nie schaffen könnten, würden sie nicht von italienischen und europäischen Rettungsschiffen aufgegriffen. Zudem sorgt das Innenministerium dafür, dass die Insel mit ihren 6000 Einwohnern nicht überlastet wird. Zwischen Januar und Ende August hat Rom 9000 gerettete Flüchtlinge und Migranten vorübergehend auf Lampedusa geschickt. Im vergangenen Jahr waren es im gleichen Zeitraum 14 000 Menschen gewesen.

Auch die bessere Organisation der Behörden vor Ort hat zur Entspannung der Lage beigetragen. Bereits am Hafen erhalten die Ankömmlinge erste medizinische Betreuung, Decken und Verpflegung. Dann werden sie in Busse verfrachtet und in den Hotspot gefahren. Dieses Zentrum liegt an der Peripherie Lampedusas fernab der Restaurants und Strände. Aus dem Strassenbild ist die Flüchtlingskrise darum praktisch verschwunden. Wie die meisten Einheimischen habe auch er viel Verständnis für die Geflüchteten, sagt ein Restaurantbesitzer. Doch sei er mit Blick aufs Geschäft auch froh, dass die Touristen die «migranti» während ihres Urlaubs kaum mehr zu Gesicht bekämen.

Seit einige Insassen einen Teil des Hotspots im April in einer Protestaktion in Brand gesetzt haben, bietet das Zentrum noch Platz für rund 300 Personen. Nach der abendlichen Ankunft der 1300 Flüchtlinge und Migranten ist das Lager daher hoffnungslos überfüllt. Ausgeheckt worden waren die Hotspots letztes Jahr in Brüssel, so dass am Eingang neben der italienischen auch die EU-Flagge weht. Verantwortlich für das Zentrum ist aber allein das italienische Innenministerium, das Journalisten den Zugang zu den Hotspots seit einiger Zeit verwehrt. Durch den Gitterzaun sind Hunderte von Frauen, Männern und Kindern zu sehen, die im Schatten von Bäumen Zuflucht vor der Mittagssonne suchen. Da es nicht genug Betten gibt, haben viele die Nacht draussen auf Wärmedecken aus Aluminium verbracht, die nun leise im Wind rascheln.

Werbung für Umsiedlungen

Tätig sind im Hotspot die italienische Armee und diverse Polizeibehörden, das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR), die Internationale Organisation für Migration sowie die EU-Asylbehörde EASO. Auch die EU-Agentur Frontex, die jüngst in die neue europäische Grenz- und Küstenwache umgewandelt wurde, ist am Zentrum tätig. Trotz der Überbelegung scheinen die Behörden die Lage unter Kontrolle zu haben, zumal die Ankömmlinge nur maximal 72 Stunden im Hotspot verbringen sollen. Auf jeden Fall scheinen die Insassen am Tag nach ihrer Ankunft geduldig auf die administrativen Schritte zu warten, die sie im Zentrum zu durchlaufen haben. Nach einem Sicherheitscheck und einer medizinischen Untersuchung eruieren Frontex-Experten die Nationalität der Flüchtlinge und Migranten. Meistens genügen wenige gezielte Fragen, um festzustellen, ob jemand eine falsche Herkunft angibt.

Bei der Registrierung müssen die Ankömmlinge sodann ankreuzen, ob sie die Absicht haben, Asyl zu beantragen. Anschliessend nehmen ihnen italienische oder Frontex-Beamte die Fingerabdrücke ab, um sie in die Eurodac-Datenbank einzugeben. Gemäss den vom italienischen Innenministerium unter Einbezug Brüssels definierten «Standardprozeduren» darf in der Tat niemand den Hotspot verlassen, ohne registriert worden zu sein. Und bei der Abnahme von Fingerabdrücken ist der «Einsatz verhältnismässiger Gewalt» als letztes Mittel erlaubt. Menschenrechtsgruppen üben Kritik. Frontex-Sprecherin Izabella Cooper beteuert im Gespräch in Lampedusa aber, dass dies kaum je vorkomme.

Aus Sicht der EU haben die Hotspots zwei Funktionen: Erstens soll verhindert werden, dass Flüchtlinge und Migranten unregistriert in die EU gelangen und quer durch Europa reisen. Zweitens soll bereits in den Hotspots eine Triage erfolgen zwischen jenen, die voraussichtlich Anspruch auf Asyl haben, und jenen, die kein Bleiberecht erhalten werden und Europa darum wieder verlassen müssen. Zudem sollen besonders schutzbedürftige Menschen und unbegleitete Minderjährige frühzeitig identifiziert werden.

Andreas Brandstetter kümmert sich um die Insassen mit Aussicht auf Asyl. Der Jurist ist für einige Monate vom österreichischen Innenministerium an die EU-Asylbehörde EASO detachiert worden. Nun soll er die Ankömmlinge in Lampedusa über das Umsiedlungsprogramm der EU informieren, das viele Experten bereits für gescheitert erklärt haben. Infrage für Umsiedlungen kommen nur Staatsangehörige, die in der gesamten EU eine hohe Anerkennungsquote als Flüchtlinge haben. Laut Brandstetter trifft das derzeit auf Syrer, Eritreer und Zentralafrikaner zu. Im Hotspot führen das UNHCR und die EASO Informationsveranstaltungen über die Asylmöglichkeiten in Europa durch. Zu Brandstetters Klienten gehören vor allem Eritreer. Ihnen erklärt er, die Umsiedlung sei die einzige Möglichkeit, legal in einem anderen europäischen Land als Italien Schutz zu finden.

Eine EU-Quelle in Brüssel sagt, die Mehrheit der Ankömmlinge auf der zentralen Mittelmeerroute seien Wirtschaftsflüchtlinge, während in Griechenland jeder zweite Geflüchtete Anspruch auf Asyl habe. Doch auf den Ägäisinseln kommen als Folge des Deals zwischen der EU und der Türkei nur noch wenige Flüchtlinge an – und wer ankommt, steckt in den Hotspots fest, von denen aus die Flüchtlinge direkt in die Türkei zurückgeschickt werden sollen. Anders ist die Ausgangslage in Italien: Zum einen bewegen sich die Ankunftszahlen auf der zentralen Mittelmeerroute auf dem Vorjahresniveau. Zum anderen haben Italien und Europa mit den meisten Herkunfts- und Transitstaaten in Nordafrika keine mit dem Türkeideal vergleichbaren Rückführungsabkommen, Libyen hat sich zu einem gescheiterten Staat entwickelt. Daher wären in Lampedusa Rückführungen direkt aus dem Hotspot selbst dann unmöglich, wenn die Kapazitäten für die Unterbringung vervielfacht würden.

Die Umsiedlung stockt

Nach drei Tagen verlassen die meisten Ankömmlinge Lampedusa darum wieder. Ein von Polizeiautos eskortierter Bus transportiert sie vom Hotspot in einen gesicherten Bereich des Hafens. Auf Anweisung eines Beamten setzen sie sich in dichten Reihen auf den Boden und warten, bis sie eine Fähre ins acht Stunden entfernte Agrigento in Sizilien bringt. Der Hotspot mag etwas Ordnung in die Erstaufnahme gebracht haben, nun aber steht den Flüchtlingen und Migranten eine Fahrt ins Ungewisse bevor. Auf Sizilien wird bei den Behörden einen Antrag stellen können, wer bereits im Hotspot als Asylsuchender vorgemerkt worden ist. Auch die Registrierung für das EU-Umsiedlungsprogramm ist dort theoretisch möglich. In der Praxis sind aus Italien aber erst 1300 Flüchtlinge über das Programm in ein anderes EU-Land transferiert worden – eigentlich sollten bis im Herbst 2017 mindestens 40 000 Umsiedlungen erfolgen.

Wer es verpasst habe, schon im Hotspot Interesse an Asyl zu bekunden, erhalte später kaum mehr Zugang zu einem Asylverfahren, kritisieren Menschenrechtsorganisationen. Laut dem italienischen Innenministerium ist der Zugang zu Asyl zwar jederzeit gewährleistet. Doch werden die meisten Migranten für Rückführungen vorgemerkt, sie sollen rasch einen Ausreisebefehl erhalten, manche werden in Ausschaffungszentren gebracht. Dieses Schicksal droht eigentlich auch den meisten Afrikanern, die am Hafen von Lampedusa auf die Weiterfahrt warten. Doch können in Europa nur rund 40 Prozent der Migranten mit einem Ausweisungsentscheid tatsächlich ausgeschafft werden. Etliche werden wohl als Sans-Papiers im informellen Arbeitsmarkt verschwinden, wo die Nachfrage nach den billigsten Arbeitskräften nie ganz versiegt.

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Sonnenschein bringt Bootsflüchtlinge

nn. Brüssel ⋅ Neben dem Zentrum in Lampedusa gibt es auch in Trapani und Pozallo auf Sizilien sowie in Taranto in der süditalienischen Region Apulien je einen Hotspot. Gemäss der EU-Strategie sollten eigentlich alle geretteten Schiffbrüchigen in Hotspots gebracht und dort registriert werden. Doch die vier funktionierenden Hotspots haben bloss eine Aufnahmekapazität von 1600 Personen. Die EU-Kommission hat dies jüngst in einem Bericht erneut als «ungenügend» bezeichnet.

Die libyschen Schlepper schicken die Bootsflüchtlinge in der Regel nur bei günstigen Wind- und Wetterbedingungen los. Dies hat zur Folge, dass die Küstenwache und die Schiffe der Frontex-Mission Triton nach einer Schlechtwetterphase jeweils Tausende von Flüchtlingen auf einmal retten und an Land bringen, was zu Engpässen führt. Nach EU-Angaben werden in Italien nur etwa 30 Prozent aller Ankömmlinge in Häfen abgeladen, die sich in unmittelbarer Nähe von Hotspots befinden. Die EU-Kommission verlangt daher die Schaffung zusätzlicher Hotspots und, wo dies kurzfristig nicht möglich ist, die flächendeckende Anwendung der entsprechenden Aufnahme- und Triage-Prozeduren.

Allerdings anerkennt man auch in Brüssel, dass mittlerweile der grösste Teil der in Italien ankommenden Flüchtlinge und Migranten ordnungsgemäss registriert und in der Schengen-Datenbank Eurodac erfasst werden. Die EU-Asylbehörde EASO und die aus der Frontex hervorgegangene EU-Grenz- und -Küstenwache verfügen überdies über «mobile Hotspots». Mit tragbaren Geräten zur Abnahme von Fingerabdrücken ausgerüstete Expertenteams können kurzfristig an einen Hafen entsandt werden, in dem die Ankunft geretteter Flüchtlinge erwartet wird.

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