12. Oktober 2016 · Kommentare deaktiviert für Die Integration von Syrern funktioniert – über Facebook · Kategorien: Deutschland, Hintergrund

Quelle: Welt.de

Syrer in Deutschland sind online bestens vernetzt. YouTube-Stars erklären ihren Landsleuten, wie Integration funktioniert – und wie man Terroristen fängt. Das größte Facebook-Portal hat 200.000 Fans.

Von Eva Marie Kogel

Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz. Schwarzbrot. Die Spartarife der Deutschen Bahn. Integration ist harte Arbeit, kaum ein Syrer würde das Gegenteil behaupten, zumal im rätselhaften Deutschland – einem komplizierten Land mit einer für ausländische Zungen fehleranfälligen Sprache, oft schwer verdaulichem Essen und einem Verkehrssystem, das viele Regeln für noch mehr Tarife kennt. Die neue Heimat ist für viele Syrer ein Konstrukt aus Ordnungsvorstellungen und Vorschriften, denen man als Neuankömmling erstens voller Ehrfurcht begegnet und zweitens gerecht werden will. Nur: wie?

Die syrische Gemeinde in Deutschland ist bemerkenswert gut vernetzt, vor allem in den sozialen Netzwerken. Es gibt unzählige Facebook-Gruppen, deren Postings teils Hunderttausende erreichen. Meist werden hier Fragen zum Asylverfahren gestellt und von Syrern, die diverse Behördengänge schon hinter sich gebracht haben, ausführlich beantwortet. Es werden Übersetzungsbitten von unverständlicher Amtspost gepostet und binnen weniger Minuten erfüllt. Und es werden Nachrichten ins Arabische übersetzt und verbreitet, wie der Fahndungsaufruf nach Dschaber al-Bakr.

Ziemlich erfolgreich, wie sich herausstellen sollte. Der Syrer, der in seinem Gast den Gesuchten erkannte, ihn fesseln ließ und der Polizei übergab, gab später zu Protokoll, das Foto des mutmaßlichen Terroristen in den syrischen Netzwerken erkannt zu haben.

Praktische Lebenshilfe auf Arabisch

Da ist zum Beispiel die Facebook-Nachrichtenseite der „Syrischen Gemeinde in Deutschland“ mit knapp 200.000 Fans. Dem „Syrischen Haus Deutschland“ folgen 35.000 Fans, der Seite „Sorgen der Flüchtlinge in Deutschland“ immerhin 12.000. Deutschland ist groß, viele Belange lassen sich viel besser auf regionaler Ebene klären. Beispielsweise in der Gruppe „Das syrische Haus in den Gebieten nördlich des Rhein“ mit knapp unter 50.000 Mitgliedern.

Nahezu jede größere Stadt in Deutschland und jeder Ballungsraum hat so eine Gruppe, in der auf Arabisch praktische Lebenshilfe gestellt wird. Was genau bedeutet es, wenn ich am Ende meines Asylverfahrens nur subsidiären Schutz bekommen habe? Wie kann ich meine Familie nachholen? In Nutella-Gläsern werden Spartickets der Deutschen Bahn versteckt? Sofort wird diese Nachricht übersetzt und in die Gruppe gepostet, viele kennen das: Verwandte zu besuchen, das kann schnell teuer werden. Es gibt Seiten, auf denen mit Elektrogeräten, Autos und Möbelstücken gehandelt wird.

Und es gibt grandiose Comedykanäle, in denen Syrer inzwischen nicht nur Syrern, sondern auch Deutschen die Probleme des Zusammenlebens in ziemlich witzigen Videos näherbringen.

Posting war auch Grundlage für Suche nach Bombenbauer

Hinter einem davon steckt Abdul Abbasi. Mit zwei Freunden hat er im September 2015 den Kanal „German Life Style“ ins Leben gerufen. Sie wollten den Neuankömmlingen das Leben in Deutschland erklären: Schulwesen, Wohnungssuche, die deutsche Angewohnheit, nach einem Restaurantbesuch die Rechnung auf den Cent genau aufzuteilen. 90.000 Fans hat die Seite inzwischen, oft stehen die drei jungen Männer in Facebook-Livechats ihren Landsleuten Frage und Antwort. Praktische Lebens- und Integrationshilfe, komplett online.

Als Abbasi am Sonntag den Fahndungsaufruf der Polizei Chemnitz las, zögerte er nicht, diesen ins Arabische zu übersetzen und zu posten. Es war auch aufgrund dieses Postings, dass die syrische Gemeinde in Deutschland begann, den mutmaßlichen Bombenbauer auf eigene Faust zu suchen.

Wie die „Welt“ berichtete, kann sich Abbasi zwei Tage später vor Interviewanfragen kaum noch retten. Er geht trotzdem ans Telefon. „Ich freue mich natürlich über die Aufmerksamkeit“, sagt er. Er verstünde nur nicht so ganz, dass jetzt alle überrascht seien. „Ist doch normal. Wir Syrer wissen doch, wie es ist, in einem unsicheren Land zu leben.“

Syrer studiert inzwischen Medizin in Göttingen

Als Abbasi 2012 in Aleppo die Klausuren für sein syrisches Abitur schrieb, schlugen in der Nachbarschaft die ersten Bomben ein. Über Umwege schaffte er es, nach den bestandenen Prüfungen nach Istanbul zu fliehen. Mit diversen kleinen Jobs hielt er sich über Wasser und half anderen Syrern dabei, Dokumente für Visumanträge auszufüllen. So lange, bis schließlich sein eigenes Studentenvisum genehmigt wurde und er nach Deutschland fliegen durfte, das war Anfang 2014.

In Berlin jobbte er in einem Fast-Food-Restaurant und besuchte Deutschkurse. Inzwischen studiert er im dritten Semester Zahnmedizin in Göttingen. Wenn er heute durch die Stadt läuft, grüßen ihn viele. Er ist eine Berühmtheit unter den Syrern, auch auf der Berliner Sonnenallee wird er erkannt.

„Am Anfang hatten wir nur syrische Fans“, sagt Abbasi. „Heute sind etwa ein Viertel unserer Abonnenten Deutsche. Das finden wir super. Wir wollten ja unbedingt Brücken bauen.“

Aus Aleppo nach Dortmund

Es gibt eine ganze Reihe syrischer Berühmtheiten in der zugewanderten Szene, sie sind ganz eigene Motoren der Integration. So auch Deiaa Abdullah. Er ist als Medizinstudent aus Aleppo nach Deutschland gekommen, heute wohnt er in Dortmund. Über seinem YouTube-Kanal prangt das Foto einer Verkehrsampel, in der ein totes Herzchen leuchtet.

In seinen Videos erklärt er seinen Landsleuten auf Arabisch die Untiefen der deutschen Sprache. Dativ, das Präteritum und den Infinitiv, gebildet mit „um … zu“: 50.000 Menschen folgen seinen Lektionen. Die Anleitung „Wie man eine E-Mail schreibt“ hat 65.000 Views.

Das sind viele Zuschauer für trockene Grammatikübungen einer schwierigen Sprache. Da ist ein Fahndungsaufruf wirklich eine Kleinigkeit.

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