09. Oktober 2016 · Kommentare deaktiviert für Kommentar: Sanctuary Cities · Kategorien: Deutschland, Europa · Tags:

Die Migrationsbewegung der 1980er Jahre aus den mittelamerikanischen Kriegszonen in die USA und die Abwehr der Flüchtigen unter Reagan weist erstaunliche Parallelen auf zu den heutigen Migrationsbewegungen nach Europa. In den Vereinigten Staaten entstand damals eine starke Bewegung zur Unterstützung der Flüchtigen, das Sanctuary Movement. Angesichts des Versagens der europäischen Migrationspolitik ist es angemessen, an diese Bewegung zu erinnern.

Durch den Dirty Deal mit der Türkei und die Aufrüstung der Balkangrenzen wurde die Immigration nach Deutschland effektiv begrenzt.1 Zur Zeit schaffen es nur noch um die 100 Menschen täglich, bis nach Österreich durchzukommen.2 Merkel und EU-Kommission sind voll auf die Linie der Visegrád-Staaten eingeschwenkt. Das ist nicht nur an der bevorstehenden Dublin-IV-Reform abzulesen, die nicht anders denn als „Ausstieg aus dem Flüchtlingsschutz“ bezeichnet werden kann,3 sondern mehr noch an dem Abkommen mit Afghanistan vom 5. Oktober, gemäß welchem die Abschiebung von Migrantinnen zurück in die afghanischen Kriegszonen vorgesehen ist.4

Die Hauptroute der Migration hat sich auf das zentrale Mittelmeer verlagert, um den Preis von bislang 3604 Toten in diesem Jahr.5 Da die Abschottung der Alpenpässe funktioniert und die Relocation hinausgezögert wird, stauen sich die Migrantinnen in den italienischen Hot Spots und vor den Grenzen. Ein Deal mit Ägypten und die Militarisierung der libyschen Küsten werden die nächsten Schritte sein, um auch diese Route abzuriegeln.

In Deutschland ist absehbar, dass die Zahl der Ausreisenden die Zahl der Ankommenden schon bald übertreffen könnte. In der ersten Jahreshälfte 2016 wurden 16.500 Menschen abgeschoben und 35.000 verließen das Land ‚freiwillig‘. Monatlich werden derzeit noch 16-17.000 Asylanträge registriert.6  Die Ankerkennungsqoute liegt bei Migrantinnen aus Syrien und Eritrea über 90%, aus dem Irak noch bei 74%, aus Afghanistan aber nur noch bei 44%, da die Kriegszonen in Westasien inzwischen als ’sichere Drittstaaten‘ definiert werden.7  Die Politik sieht sich unter dem Druck des Populismus veranlasst, die Quote der Abschiebungen weiter zu erhöhen und will Transall-Maschinen, die mit Migrantenfamilien besetzt sind, jenseits der regulären Flüge in Afghanistan landen lassen. Viele, deren Antrag abgelehnt wird und die keine Duldung erhalten, tauchen ab in die Gruppe der Sans Papiers, deren Anzahl im letzten Jahr auf 180 bis 520.000 geschätzt wurde.8

Es ist nun höchste Zeit für eine Gegenreaktion aller, die Abschiebungen in Kriegszonen empörend finden und mit uns der Meinung sind, dass Migrantinnen nicht zum Spielball schmutziger Abkommen gemacht werden dürfen. Sie sind keine Manövriermasse, sondern Menschen, die es über die Balkanroute oder das Mittelmeer unter Aufbietung aller Kräfte hierher geschafft haben. Wir haben diese Menschen auf der Route und bei ihrer Ankunft nach Kräften unterstützt und es ist nun unsere Aufgabe, gemeinsam mit ihnen ein faktisches Bleiberecht durchzusetzen. Die Voraussetzungen für eine solche Gegenreaktion sind eigentlich nicht schlecht, denn knapp die Hälfte der Deutschen findet „Willkommenskultur“ und ein buntes Leben richtig und will sich vom Populismus nicht dumm machen lassen. Wir halten am Ethos der Mitmenschlichkeit fest, und auch der Papst ist auf unserer Seite.

Sanctuary Movement

Es scheint also jetzt der richtige Zeitpunkt zu sein, sich des Sanctuary Movement zu erinnern, welches sich in den USA in den 1980er Jahren entwickelt hat. Damals flohen fast 1 Million Menschen aus den Kriegszonen Mittelamerikas, vor allem aus El Salvdor und Guatemala, über die US-amerikanische Grenze. Die Regierung Reagan unterstützte die Contras in Nicaragua, das Militär in El Salvador und die mordenden Paramilitärs in Guatemala – und sie verweigerte den Flüchtigen aus dieser Region das Asyl – mit Anerkennungsraten unter drei Prozent. Viele wurden trotz aller Proteste eingesperrt und abgeschoben. Einem einzigen Mann aus Guatemala wurde 1984 in den Staaten Asyl gewährt.9

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich das Sanctuary Movement an der Grenze zwischen Mexiko und Arizona, aber auch in Chicago, Philadelphia, Californien und Texas.

In 1980, Jim Corbett, Jim Dudley, John Fife and other residents of Tucson, Arizona, began providing legal, financial and material aid to Central American refugees. As Corbett recounts, the tradition of his Quaker faith and its involvement in the Underground Railroad compelled him to take action. Gary Cook, associate pastor of the Central Presbyterian Church in Massillon, Ohio, cited the simple experience of personal interaction: „We’re a very conservative group of folks politically. But once we encountered the refugees face to face, we couldn’t justify not taking them in.

Das Sanctuary Movement wurde im Kern durch mehr als 500 Kirchengemeinden getragen – unter ihnen „Lutherans, United Church of Christ, Roman Catholics, Presbyterians, Methodists, Baptists, Jews, Unitarian Universalists, Quakers, and Mennonites“.10  Die Kirchen sind auch heute für uns wichtige Verbündete. Wir übersehen nicht, dass zum Beispiel die Malteser und viele andere bei der Unterstützung der Migrantinnen einen bedeutenden Beitrag leisten. Das Kirchenasyl hat viele Flüchtige gerettet. Hier in Deutschland ist allerdings auch die „Zivilgesellschaft“ gefordert, die den Schutz der elementaren Menschenrechte, auch das elementare Recht auf Migrationen, und Mitmenschlichkeit auf ihre Fahnen schreibt.

Sanctuary Cities

Aus dem Sanctuary Movement entwickelte sich in den Vereinigten Staaten und in Kanada im Lauf der Jahre ein Trend, der auf einem Zusammenwirken von örtlichen Initiativen und Stadtverwaltungen beruhte und in die Gründung von Sanctuary Cities mündete. Es gibt etwa 300 Cities, Counties und States, die die Festnahme und Ausweisung von Migrantinnen durch die Bundesbehörden nicht unterstützen, darunter Weltstädte wie Los Angeles und New York, Houston und Toronto.11  Dort haben die City Councils beschlossen, dem rassistischen Strom der Politik nicht zu folgen, Migrantinnen ohne Papiere nicht mehr zu verfolgen, ihre Papiere nicht zu kontrollieren, ihre Kinder zu beschulen, sie bei Krankheit zu unterstützen und bei der Suche nach Wohnraum und Arbeit nicht zu behindern. Hier die Definition bei Wikipedia:

A sanctuary city is a city in the United States or Canada that adopts local policies designed to not prosecute people solely for being an illegal alien in the country in which they are currently living. These practices can be by law (de jure) or they can be by habit (de facto). The term generally applies to cities that do not allow municipal funds or resources to be used to enforce national immigration laws, usually by not allowing police or municipal employees to inquire about an individual’s immigration status. The designation has no legal meaning.12

In Barcelona fordert die Stadtregierung unter Bürgermeisterin Ada Colau die Bildung eines europäischen Netzwerks von rebellischen sanctuary cities: Auch in Deutschland wird durch eine Vielzahl von Solidaritätsinitiativen die Überwindung von Grenzen, Unterschieden und Hierarchien alltäglich praktiziert.13

Sicherlich sind die Rahmenbedingungen andere als in den USA, wo die kommunalen Verwaltungen und die States eine größere Autonomie genießen als in Europa. Aber auch dort ist die de-facto-Situation wichtiger als die Rechtslage. Und es besteht auch hier ein kommunaler Gestaltungsraum. Das politische Klima in einer Stadt ist entscheidend: Toleranz, Respekt vor anderen Kulturen und Lebenswegen, Verzicht auf staatliche Gewaltakte und Polizeikontrollen würde jeder Stadt, die auf sich hält, gut zu Gesicht stehen.

Wir sehen eine Chance, dass ‚Sanctuary City‘, ‚Welcome City‘, Stadt des Asyls und des Bleiberechts auch in Europa, von Barcelona bis Hamburg und von Calais bis Berlin, zu einem Begriff wird, der von den Migrantinnen und den Unterstützerinnen, den Kirchen und den Initiativen mit Leben gefüllt werden muss. Zum Teil sind die Schulen bereits auf gutem Weg,14 es gibt das Kirchenasyl, es gibt Migrantenmedizin und medibüros, Unterstützergruppen und vereinzelt Squats, und es gibt seitens der Polizei bisweilen schon eine gewisse Toleranz gegenüber migrantischen Reproduktionszusammenhängen. All dies könnte sich gegenseitig stärken und verdichten – und das wäre die richtige Antwort auf das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik.

  1. http://moving-europe.org/idomeni-im-winter/
  2. http://data.unhcr.org/mediterranean/regional.php
  3. Maximilian Pichl, Dublin IV: Europäischer Asylausstieg, Blätter für Deutsche und Internationale Politik 10/2016, S. 9
  4.  https://archiv.ffm-online.org/2016/10/07/europe-makes-deal-to-send-afghans-home-where-war-awaits-them/
  5. http://data.unhcr.org/mediterranean/regional.php, Aufruf 07.10.2016
  6. Zu den Zahlen siehe https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/zahl-der-fluechtlinge.html
  7. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/201608-statistik-anlage-asyl-geschaeftsbericht.pdf?__blob=publicationFile
  8. http://irregular-migration.net/fileadmin/irregular-migration/dateien/4.Background_Information/4.5.Update_Reports/Vogel_2015_Update_report_Germany_2014_fin-.pdf
  9. https://en.wikipedia.org/wiki/Sanctuary_movement
  10. Alle Zitate aus Wikipedia, siehe FN 9
  11. http://cis.org/Sanctuary-Cities-Map (Das CIS ist diesen Städten feindlich gesonnen, führt aber eine stets aktualisierte Liste. Der dort behauptete Anstieg der Krinimalität in den Sanctuary Cities wurde bereits in zahlreichen Untersuchungen widerlegt.)
  12. https://en.wikipedia.org/wiki/Sanctuary_city
  13. Bauder, Mezzadra, in Zeit Online 04.08.2016, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-08/offene-grenzen-keine-grenzen-migration. Harald Bauders Buch Migration, Borders, Freedom, ist soeben bei Routhledge erschienen. Eine Rezension an dieser Stelle ist vorgesehen.
  14. https://mediendienst-integration.de/migration/sans-papiers.html 2011 wurde für Schulen und Kitas die Übermittlungspflicht abgeschafft – es muss den Behörden also nicht mehr mitgeteilt werden, wenn ein Kind ohne Papiere angemeldet wird. Allerdings fehlt in den Ländergesetzen bislang eine Formulierung zum Anspruch auf Bildung dieser Kinder. Und irreguläre Migranten müssen für ihre Kinder in Kindertagesstätten oftmals den Höchstsatz zahlen, da sie keine Verdienstbescheinigung vorlegen können.

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