23. September 2016 · Kommentare deaktiviert für „Ruhe in Deutschland, Rauch auf Lesbos“ · Kategorien: Europa, Griechenland, Türkei

Quelle: Spiegel Online

Das Lager Moria abgebrannt, Hungerstreiks eskalieren, Asylanträge verschleppt: Die Lage der Migranten auf den griechischen Inseln ist verzweifelt. Die Situation offenbart das ganze Scheitern des Flüchtlingsdeals.

Aus Lesbos berichtet Giorgos Christides

Der Himmel über Moria, dem Hauptcamp für Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos, ist grau. Es nieselt auf die verkohlten Überreste der mehr als 100 Unterkünfte, vor Kurzem wüteten hier noch die Flammen. Seit den frühen Morgenstunden verlassen immer wieder Migranten das Lager, sie erzählen den Menschen draußen vom Brand und zeigen Fotos.

„Das war einmal mein Zelt“, sagt Hamid, ein 28-jähriger Iraner. Mit dem Finger deutet er auf ein Foto auf seinem Smartphone, es zeigt nur Asche. Als sich die Flammen in der Nacht zum Dienstag durch die Zelte im Camp Moria fraßen, wurden auf einen Schlag nicht nur Hunderte Frauen, Männer und Kinder obdachlos. Das Feuer zerstört auch die Illusion, dass der Flüchtlingsdeal zwischen der Europäischen Union und der Türkei auch nur halbwegs funktioniert – oder sich wenigstens die Situation der Schutzsuchenden verbessert haben könnte.

Flüchtlinge, Mitarbeiter der Hilfsorganisationen, Polizisten – sie alle berichten SPIEGEL ONLINE, dass es Spannungen zwischen den Bewohnern des Camps Moria waren, die eskalierten und zu dem Feuer führten. Seit Tagen kursierte im Camp das Gerücht, Griechenland bereite Massenabschiebungen in die Türkei vor. Aus Protest trat eine Gruppe in Hungerstreik – doch als einige Flüchtlinge Lebensmittel annahmen, brach Gewalt aus. Die Polizei setzte Tränengas ein, um die Streitenden zu trennen.

Doch die Auseinandersetzung über den Hungerstreik ist nur symptomatisch für die wahren Hintergründe der Eskalation, auch darin sind sich die meisten einig. Die Menschen in Moria sind schon lange frustriert, wütend, verlieren die Hoffnung – die Gewalt sei eine direkte Folge.

Gemeinsam versuchen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen, das Uno- Flüchtlingshilfswerk und griechische Beamte seit dem Feuer, zumindest das akute Problem zu lösen und neue Unterkünfte für die obdachlosen Flüchtlinge zu finden. Das eigentliche Leid der Menschen in Moria und den anderen Camps können sie jedoch nicht lindern: 16.000 Menschen harren dort seit Monaten aus, führen ein Leben in der Schwebe. Sie können die griechischen Inseln wegen des EU-Türkei-Deals nicht verlassen und sie wissen nicht, wie ihre Zukunft aussieht.

Abgelehnte Syrer werden nicht abgeschoben

In der Theorie ist alles geregelt: Das Abkommen sieht vor, dass ab Mitte März alle ankommenden Asylsuchenden ihre Anträge auch in Griechenland stellen. Dort soll zügig mithilfe der europäischen Beamten entschieden werden. Wer abgelehnt wird, soll umgehend in die Türkei zurückgeschickt werden. Für jeden abgelehnten Asylbewerber aus Syrien soll im Gegenzug dann ein syrischer Flüchtling direkt in die EU gebracht werden.

So weit die Theorie. Doch die Praxis sieht ganz anders aus: Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE ist in den vergangenen sechs Monaten kein einziger Syrer, der einen Asylantrag gestellt hat, in die Türkei zurückgeschickt worden. Das liegt zum Teil daran, dass sich die zuständigen Beamten in Griechenland dagegen sträuben, die Türkei als sicheren Drittstaat anzuerkennen – nur unter dieser Voraussetzung dürfen Menschen jedoch dorthin abgeschoben werden.

Zum anderen macht Griechenland die EU für die Verzögerung verantwortlich. Die versprochene Hilfe aus den anderen Mitgliedstaaten – insbesondere die Unterstützung durch Asylexperten – existiere bislang größtenteils nur auf dem Papier, sagen Mitarbeiter der Regierung und der Asylbehörde SPIEGEL ONLINE.

Der Fall von Fahim aus Afghanistan ist bezeichnend für die Situation vieler Migranten, die auf den griechischen Inseln ausharren. Die Hilfsorganisation Save the Children hat seine Geschichte aufgezeichnet. Vor viereinhalb Monaten stellte Fahim seinen Asylantrag, am 21. Oktober soll er nun angehört werden. Andere müssen sogar bis 2017 auf diesen Termin warten.

In der Zwischenzeit bleibt Fahim nichts anderes übrig, als unter harten Bedingungen im überfüllten Camp zu warten. Allein auf Lesbos leben in diesen Unterkünften 5700 Menschen – dabei sind die Camps nur für halb so viele Flüchtlinge ausgelegt.

„Unser Verstand geht zugrunde“

Es gibt durchaus einen Punkt, in dem der EU-Türkei-Deal Ergebnisse zeigt: Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Griechenland kommen, ist zurückgegangen. Diese Tatsache nutzen Regierungen gerne als Argument gegen den politischen Druck von rechts. Doch die griechische Regierung befürchtet, dass der vermeintliche Erfolg nicht von Dauer ist. Ankara hat die EU bereits mehrmals gewarnt, dass die Türkei ihren Teil der Abmachung nur einhalten werde, wenn die EU die Visabestimmungen für Türken bis Oktober lockere.

Es gibt noch weitere beunruhigende Anzeichen. Allein am Mittwoch seien 120 neue Flüchtlinge auf Lesbos angekommen, berichtet ein griechischer Beamter. Das sind noch immer deutlich weniger Menschen, als zum Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung im vergangenen Jahr. Damals erreichten täglich Tausende die griechischen Inseln. Doch kurz nach dem Inkrafttreten des Deals mit der Türkei kam zeitweise überhaupt niemand. Es gibt also einen Anstieg, wenn auch bisher auf niedrigem Niveau.

Und mit den steigenden Zahlen nehmen auch die Warnungen zu: Moria und die anderen griechischen Flüchtlingskolonien würden mehr Gewalt und Revolten erleben, heißt es.

„Das Feuer im Camp Moria ist nur eine weitere Warnung, dass die Situation auf den Inseln einer tickenden Zeitbombe gleicht und wir uns auf den Knall zubewegen“, sagt Andreas Ring, der für von Save the Children in Griechenland arbeitet. Fahim aus Afghanistan teilt diese Einschätzung: „Wir sind schon so lange hier, unser Geist, unser Verstand geht zugrunde. Die Menschen machen Dinge, die sie normalerweise nie tun würden.“

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