19. September 2016 · Kommentare deaktiviert für „Ungarn und die Flüchtlingsfrage: Ein Jahr danach“ · Kategorien: Ungarn · Tags:

Quelle: Budapester Zeitung

Am 15. September jährte sich die physische Schließung der Grenze. An diesem Tag vor einem Jahr wurde ein mit Stacheldraht bewährter Eisenbahnwaggon in die letzte Lücke des Zauns auf einer serbisch-ungarischen Bahnstrecke geschoben und die Balkanroute – zumindest der ungarische Abschnitt – physisch dicht gemacht. Seitdem hat sich in Ungarn Vieles verändert.

Spätsommer in Ungarn, es ist ungewöhnlich heiß für einen September. Am Keleti pályaudvar (dt.: Ostbahnhof) ist es ein Tag wie jeder andere, Menschen gehen ihren Geschäften nach, eilen zur Arbeit oder nach Hause, Schüler stehen und sitzen in Gruppen, hier und da sieht man Obdachlose. Ein ganz normaler Bahnhofsvorplatz in einer Metropole. Vor fast genau einem Jahr blickte jedoch die Welt auf diesen Platz, als mehrere Tausend Menschen auf Decken und in Zelten provisorisch Unterschlupf suchten und warteten. Auf was, wussten sie damals nicht genau, nur, dass es besser werden würde, besser werden musste, so viel war sicher.

Marsch der Hoffnung

Von hier startete der „Marsch der Hoffnung“ gen Wien, hier stiegen Menschen in den Zug, der sie über die Grenze in den Westen bringen sollte, und dann doch in Bicske, an einem Auffanglager hielt. Hier wurden Kinder geboren. „Das scheint alles so weit weg zu sein“, sagt Judit Szikra. Die Freiwillige der Migration Aid hält bis heute Kontakt zu ein paar von, wie sie sagt, „ihren Jungs“. „Ihre Jungs“ sind eine Gruppe von unbegleiteten Minderjährigen, der älteste von ihnen war damals 15, die seit der Türkei gemeinsam unterwegs waren.

Judit traf sie in Ungarn, begleitete einen von ihnen ins Krankenhaus, versuchte, Unterkünfte zu organisieren. Und auch heute noch versucht sie, über Ländergrenzen hinweg zu helfen. Die Jungs sind mittlerweile in Deutschland, gehen zur Schule, der Älteste sucht nach einer Arbeit. Zwar hat sich die Situation im Land massiv entspannt, was die Zahlen angeht, aber Judit weiß, dass sich die Route und damit das Flüchtlingsproblem selbst nur verlagert hat: „Bloß, weil wir heute hier niemanden mehr vor Augen haben, sind immer noch tausende Menschen unterwegs.”

Gewalt gegen Flüchtlinge

Ortswechsel zum Grenzübergang Röszke. Gewartet wird hier immer noch, jedoch nicht mehr auf ungarischer Seite. Seit dem 1. September ist ein Gesetz in Kraft, nachdem sogenannte Tiefenaufgriffe nicht mehr strafrechtlich belangt werden. Stattdessen werden die Menschen, die mutmaßlich illegal über die Grenze gekommen sind und innerhalb des acht Kilometer breiten Grenzkorridors aufgegriffen werden, an die Grenze zurückgebracht und über sie abgeschoben. Kein Verfahren, keine Anzeige, keine Versorgung. Man lädt sie schlicht vor den Toren des Landes ab.

 

Offiziell ist dies zumindest das Vorgehen. Doch immer häufiger machen Gerüchte und Bilder von Verletzten die Runde. Immer häufiger werden Vorwürfe laut, die ungarische Polizei und die sogenannten Grenzjäger würden ihre Polizeihunde auf Grenzverletzter loslassen, aber auch von Schlägen hört man immer wieder. Namentlich will sich kaum ein Helfer äußern und noch schwieriger ist es, einen wartenden Flüchtling zum Sprechen zu bewegen.

Es sind aber nicht nur um Anonymität bittende Helfer, die von solchen Übergriffen berichten. Auch die Ärzte ohne Grenzen wandten sich bereits Ende Juli in einem eindringlichen Appell an die Weltöffentlichkeit, aber vor allem die ungarische Regierung, etwas gegen die Gewalt gegen Flüchtlinge auf ungarischem Boden und durch ungarische Beamte zu unternehmen. „In den vergangenen Monaten hat eine zunehmende Anzahl unserer Patienten von Vorfällen von Gewalt und körperlichem Missbrauch berichtet. Auch die Zahl der Menschen mit physischen Spuren von Gewalt ist gestiegen. Nach den Berichten unserer Patienten gingen viele dieser Gewaltvorfälle von ungarischen Beamten aus“, sagt Simon Burroughs, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Serbien. „Wir verurteilen den Gebrauch überzogener Gewalt auf das Schärfste. Wir fordern die ungarischen Behörden dringend auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, damit das aufhört.“

Täglich maximal 15 Asylanträge

Glaubt man den Berichten von Helfern vor Ort hat sich jedoch nichts geändert. Weiterhin werden Flüchtlinge mit eindeutigen Verletzungen an der ungarischen Grenze abgesetzt, wo sie von Zivilorganisationen manchmal nur notdürftig versorgt werden können. „Es wird kaum jemand mit der Presse darüber reden“, erklärt Anna (Name geändert). Seit vergangenem Sommer ist sie eine der Aktivistinnen in Budapest. Seitdem aber in der Hauptstadt so gut wie nichts mehr zu tun ist, ist sie auch wieder häufiger in der Grenzregion, um vor Ort zu helfen.

 

„Täglich können maximal 15 Menschen in Röszke in der Transitzone ihren Asylantrag abgeben. Wer sich nicht an die Regeln hält, der kommt auf der Liste eben weiter nach hinten.“ Generell scheinen die Menschen vor der Transitzone den Launen der Offiziellen unterworfen. Noch im Sommer machte die Meldung die Runde, MigSzol und Oltalom, zwei ungarische NGOs, die vor Röszke Hilfe leisten, sei von offizieller Seite die Erlaubnis eben dazu entzogen worden.

„Das stimmt so nicht“, stellt Dániel Szatmáry von der Organisation IRPeace fest. Vielmehr sei es absolut davon abhängig, wer gerade Dienst vor Ort habe, ob die Helfer ihrer Aufgabe nachkommen könnten, oder nicht. Das Bild im Lager selbst hat sich zum Vorjahr kaum verändert, Kinder spielen zwischen improvisierten Zelten, Mütter kochen, Väter tragen Wasser in Eimern herbei. Die Menschen scheinen sich, so gut es geht, mit dem Warten abgefunden zu haben. Noch ist das Wetter gut, noch sind die Nächte nicht kalt. Noch ist hier alles ruhig.

Im Südosten nichts Neues

Ruhig ist es auch an der ehemaligen Bahnstrecke. Wo im vergangenen Jahr mehrere Tausend Flüchtlinge pro Tag über die grüne Grenze kamen, steht heute ein Schiebetor. Der Waggon ist weg, das Tor ist neu, die Bahnstrecke wird noch immer nicht befahren. Wirklich zu passieren scheint hier nichts. Während im vergangenen Jahr bereits in der ersten Nacht mehrfach der Zaun durchschnitten wurde, scheint die Zahl der illegalen Grenzübertritte gen Null zu tendieren. Zumindest wenn man der Regierungskommunikation glaubt. Zoltán Kovács, Regierungssprecher für Äußeres, beispielsweise stellt klar: „Der Zaun funktioniert.“ Tatsächlich hätte ja auch die Geschichte der ungarischen Regierung letztlich Recht gegeben, denn europaweit wären nach und nach Staaten dem ungarischen Beispiel gefolgt und hätten ihre Grenzen mittels Stacheldraht abgesichert.

 

Zwar mag es in Budapest so scheinen, als ob mit dem Zaunbau das Flüchtlingsproblem gelöst wäre, doch in Röszke selbst sieht man das anders. Ömar lebt seit mehr als 20 Jahren in Ungarn und hat lange als Übersetzer an der Grenze gearbeitet, „jetzt musste ich aber von meinem Schwiegervater die Felder übernehmen, weil er es gesundheitlich nicht mehr schafft“. Der Türke ist mit einer Ungarin verheiratet, seine Kinder sind in Röszke zur Schule gegangen, er lebt gern hier. „Es stimmt einfach nicht, dass niemand mehr über die Grenze kommt. Es sind wesentlich weniger, aber es kommen immer noch Menschen. Wir sehen sie doch im Dorf.“

Was sich denn seit vergangenem Sommer verändert hätte, fragen wir. „Dass ich jetzt meine Felder wieder bestellen kann.“ Denn das Land, das Ömar und sein Schwiegervater gepachtet haben, ist eines jener, auf denen im vergangenen Jahr der improvisierte Sammelpunkt zu finden war. Wo im vergangenen Jahr die Kamerafrau Pétra László einem syrischen Vater und seinem Sohn ein Bein stellte, steht heute der Mais mannshoch. Schaut man sich hier um, erinnert fast nichts an den Ausnahmezustand von vor rund 400 Tagen. Nur der Zaun glänzt in der Ferne.

Am Zaun selbst ist es ruhig

Die Sonne brennt, Polizisten tun Dienst, aber wirklich viel zu tun, gibt es nicht. Immer mal wieder schaut der junge Grenzpolizist mit seinem Fernglas ins Feld auf der anderen Seite des Zauns, aber vermutlich eher, um sich wach zu halten. Er und sein Kollege sind für einen mehreren Hundert Meter langen Grenzabschnitt scheinbar allein verantwortlich.

Ganz anders im vergangenen Jahr, als alle 200 Meter sich Polizei und Soldaten abwechselten, beide Truppen bis an die Zähne bewaffnet und eindeutig mit dem Ziel, abzuschrecken. Panzerwagen und Maschinenpistolen sind Grenzschützern gewichen, die mittlerweile sogar vernünftig verpflegt werden. Während noch im Herbst Bilder von zusammengeschusterten Unterständen durchs Netz geisterten und sich Polizisten (fast ausschließlich komplett namenlos) über die Versorgungsmissstände an der Grenze beschwerten, scheint auch hier die Lage entspannter.

Eigentlich darf der junge Grenzer nicht mit der Presse sprechen, aber beschweren will er sich auch nicht: „Wir sind hier zum Arbeiten, nicht zum Urlaub machen, ich kann nicht verstehen, warum sich meine Kollegen über die Unterbringung beschwert haben. Zum Schlafen zwischen zwei Schichten reicht es allemal und auch sonst ist alles gegeben, um sich auf den Dienst vorzubereiten.“

Er ist gerne Polizist, das sieht man ihm an, das Motto „Wir dienen und schützen“ ist in ihm personifiziert, das steht außer Frage. Wo denn die Soldaten seien, immerhin wurde der „Ausnahmezustand aufgrund massiven Migrationsgrundes“ frisch verlängert, Soldaten sollten doch theoretisch gemeinsam mit den Ordnungshütern in Blau die Grenze bewachen. Mit einem spitzbübischen Lächeln blickt er in Richtung der Bäume: „Die sind schon da, keine Sorge.“ Nur Flüchtlinge, die gibt es hier nirgends.

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