04. September 2016 · Kommentare deaktiviert für „Der überhöhte 4. September 2015“ · Kategorien: Balkanroute, Deutschland, Ungarn · Tags:

Quelle: Die Welt

Vor einem Jahr erlaubte Merkel Migranten aus Ungarn die Einreise

Wer möchte, kann gerade dabei zuschauen, wie ein Mythos entsteht – wie ein wichtiger Tag zu einem Schicksalstag überhöht wird: Nach dieser Lesart öffnete Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 4. September 2015 Deutschlands Grenzen. Dabei war dies nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die sich schon lange abgezeichnet hatte. Ein Blick auf die Entwicklung der Asylantragszahlen zeigt, dass seit 2008 kontinuierlich mehr Asylsuchende kamen. Seit 2012 verdoppelten sich die Anträge von Jahr zu Jahr und stiegen 2014 auf mehr als 200.000 an. Seit drei Jahren zieht Deutschland die meisten Asylsuchenden aller Industrieländer an.

Während die Zahl der Flüchtlinge weltweit laut UNHCR seit 2010 um 30 Prozent stieg, erlebte Deutschland eine Verzwanzigfachung im selben Zeitraum. Und 2015 waren vor dem 4. September schon über 400.000 Schutzsuchende registriert worden. Nahezu täglich kamen auch vorher Flüchtlinge per Zug aus Ungarn über Österreich nach Deutschland. Das Durchwinken auf der Balkanroute etwa begann schon am 18. Juni. Damals öffnete Mazedonien für 72 Stunden die Grenzen. Noch stärker war die Wirkung durch Meldungen, Ungarn wolle einen Grenzzaun errichten. Als dann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 25. August via Twitter mitteilte, auch unregistrierte Flüchtlinge aus Syrien würden ab sofort nicht zurückgeschickt, sondern in Deutschland anerkannt, wurde der Zuzug noch stärker. Von da an wollten sich die Menschen erst recht nicht mehr in Ungarn registrieren lassen. Das Dublin-System, nach dem Flüchtlinge in dem EU-Land registriert werden müssen, in dem sie zuerst ankommen, war also spätestens dann faktisch ausgesetzt – nachdem es jahrelang immer seltener beachtet worden war. Italien und Griechenland ließen Flüchtlinge schon lange vorher nach Norden weiterreisen. Oft registrierten diese Länder die Migranten gar nicht. Folge: Eine Rückführung, wie im Dublin-Regelwerk vorgesehen, konnte nicht umgesetzt werden; Behörden im Zentrum Europas wussten oft nicht, woher ein Asylsuchender kam. Gab es nach Italien immerhin einige Rückführungen, fielen sie seit 2011 Richtung Griechenland völlig aus – wegen der vom EuGH bestätigten Menschenrechtsverstöße in dem Mittelmeerstaat.

Das gesamte Dublin-System war eigentlich als Antwort auf die in dem Winzerdorf Schengen beschlossene Abrüstung der Kontrollen an den Staatsgrenzen gedacht. Merkel konnte – in einem über Symbolisches hinausgehenden Bedeutungsanspruch – am 4. September also gar keine Grenzen öffnen. Das hatte ihr Amtsvorgänger Helmut Kohl (CDU) schon erledigt. Nach langem Tauziehen erreichte er zum Ende seiner Kanzlerschaft den Wegfall der Kontrollen an der österreichischen Grenze zum 1. April 1998. Und seit 2007 gehört auch Ungarn zum Schengenraum. Auch wenn Merkel am 4. September nicht telefonisch die Einreise der Migranten aus Ungarn erlaubt hätte, wären sie zumindest nicht an einer deutschen Grenzkontrolle gescheitert.

Weil die Flüchtlingswanderung erst ein halbes Jahr später wirkungsvoll eingeschränkt wurde – durch die weitgehende Schließung der Balkanroute und das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei – leben inzwischen mehr als 1,7 Millionen Ausländer mit Bezug zum Asylverfahren in Deutschland, wie das BAMF der „Welt“ mitteilte. Zum Stichtag 31. Juli dieses Jahres waren es 1.731.998 Menschen. Darin enthalten sind „sowohl abgeschlossene als auch anhängige“ – also aktuell laufende – Asylverfahren, sagte eine Sprecherin. Am 30. April waren es noch mehr als 200.000 Personen weniger. Allerdings kamen in den drei Monaten bis Juli nur etwa 50.000 Schutzsuchende im Land an. Die übrigen Asylsuchenden waren Ausländer, die schon länger im Land waren, aber erst nach Monaten ihren Asylantrag stellen konnten. Auch diese Überforderung und die dadurch entstandene Unordnung, in der viele Menschen ohne Sicherheitsüberprüfung einreisten, verbinden viele zuerst mit dem Datum 4. September 2015. Der Tag wird in den Geschichtsbüchern stehen – auch wenn an ihm keine Grenzen geöffnet wurden.

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