04. September 2016 · Kommentare deaktiviert für „Ägypten ist der neue Hotspot des Menschenhandels“ · Kategorien: Ägypten, Italien, Mittelmeerroute · Tags:

Quelle: Die Welt

Die EU hat die Kontrollen vor Libyen verstärkt. Die Flüchtlinge weichen nun vermehrt auf Ägypten aus, um nach Italien zu gelangen. Vor Ort profitiert eine Gruppe besonders vom Leid der Menschen.

Ibrahim sitzt am Strand und schaut den Fischerbooten zu, die an ihm vorbeifahren. Hier, auf halbem Weg zwischen Alexandria und Damiette, ist der Sand am feinsten, das Mittelmeer am ruhigsten. Der 54-Jährige, der eine braune Dschallabija trägt, das traditionell knöchellange Gewand ägyptischer Männer, schaut versonnen auf das Wasser.

Wie eine Perlenkette reiht sich ein Boot an das andere und fährt hinaus aufs offene Meer. Fischen am helllichten Tag? „Nein“, antwortet Ibrahim, „die Boote transportieren Flüchtlinge.“

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Burdsch al-Burullus: Im Hafen des Dorfes liegen Hunderte Fischkutter, die umgerüstet als Flüchtlingsboote verkauft werden Foto: Birgit Svensson

Früher hätten hier alle vom Fischfang gelebt, auch er. Doch seitdem immer mehr Menschen nach Europa wollen, habe das Geschäft mit den Flüchtlingen die Fischerei abgelöst. Auch er hat sein Boot an die Schlepperbande verkauft und gutes Geld dafür kassiert.

Flucht aus Afrika nach Europa ist ein Riesengeschäft

Ägypten ist zur neuen Drehscheibe geworden für die Flucht aus Afrika nach Europa. Was langsam begann, hat sich mittlerweile zu einem Riesengeschäft ausgewachsen, das von Tag zu Tag größer wird. Infolge des Flüchtlingspakts der Europäischen Union (EU) mit der Türkei und der Schließung der Balkanroute wagen mehr Menschen denn je die lebensgefährliche Überfahrt von der nordafrikanischen Küste aus über das zentrale Mittelmeer bis nach Italien.

Weil die EU-Grenzschutzagentur Frontex mit ihrer Mission „Sophia“ seit Kurzem die internationalen Gewässer vor Libyen kontrolliert, weichen die Flüchtlinge auch von dort aus vermehrt nach Ägypten aus. Ägypten entwickle sich zu einem „neuen Hotspot, die Route wächst“ sagt der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri.

Und das, obwohl die Überfahrt hochgefährlich sei. Sie dauere oft länger als zehn Tage. „In diesem Jahr liegt die Zahl bei etwa 1000 Überfahrten per Schlepperboot aus Ägypten nach Italien.“ Die Tendenz sei steigend.

Das kann Ibrahim bestätigen. Die Fahrten über das Mittelmeer hätten in den vergangenen Wochen drastisch zugenommen, seit in Libyen die Küsten stärker bewacht würden, sagt er. Hier seien die Schlepper ungestört. Die Polizei vor Ort drücke beide Augen zu. Ibrahim macht eine unverkennbare Handbewegung: „Bakschisch“, flüstert er – Schmiergeld.

Flüchtlingsboote starten bei Vollmond Richtung Italien

Die Fischer machen jetzt das Geschäft ihres Lebens, wenn sie, wie Ibrahim, den Menschenschmugglern ihre Boote verkaufen. Das Fischerdorf Burdsch al-Burullus ist zum Umschlagplatz für Flüchtlingsboote geworden. Der Ort hat sowohl Zugang zum Meer als auch zum Nil, der weitverzweigt sein Delta bildet und einen kleinen See vor dem Dorf geschaffen hat.

Hadi sitzt in einem Kaffeehaus an der Hauptstraße, die schnurgerade durch den Ort führt, genießt seinen Feierabend und trinkt eiskalten Karkadeh, den dunkelroten Hibiskustee. Er sei Schiffbauer, erzählt der 30-Jährige, wie alle hier. Stolz zeigt er Fotos von Yachten, die er für reiche Golfscheichs gebaut und ausgestattet hat. Auch eine Firma aus Deutschland habe ihm schon einen Auftrag erteilt.

Momentan lebe er aber zunehmend vom Umrüsten gebrauchter Fischkutter zu Flüchtlingsbooten. Diese würden dann außerhalb der Zwölfmeilenzone in internationale Gewässer gebracht, wo sie vor dem Zugriff der Küstenwache sicher seien.

Wenn ein Boot voll sei, gehe es los in Richtung Italien – aber nur bei Vollmond. Das Mondlicht weise den Weg. Ohne Scheinwerfer seien die Boote vor den Augen der Küstenwache geschützt.

Einige Schlepper lassen das Schiff bewusst sinken

Am nächsten Morgen nimmt uns Hadi mit zum Hafen. Dort liegen Hunderte Fischkutter aller Größen, aller Jahrgänge und in unterschiedlichem Zustand. Es wird geschweißt, gehämmert, gestrichen. Hadi rüstet gerade einen mittelgroßen Kutter um. Er entfernt die Seile für die Netze, setzt die Flaschenzüge fest und rollt die Taue zusammen.

Etwa 400 Leute fänden Platz, wenn die Umrüstung beendet sei, meint der Schiffbauer. Zwischen einer und 1,5 Millionen ägyptischer Pfund müsste ein Schlepper dem Schiffseigner bezahlen, das sind umgerechnet zwischen 100.000 und 150.000 Euro.

Zwischen 30.000 und 50.000 Pfund (3000 bis 5000 Euro) pro Person kostet der gefährliche Trip nach Italien. Hadi verdient nur 1500 Pfund im Monat. „Mit diesem Lohn kann ich noch nicht einmal heiraten, geschweige denn nach Lampedusa fahren“, sagt Hadi.

Beim Gang über den Kutter zeigt er auf die freie Fläche am vorderen Deck. Es ist ihm sichtlich unwohl, als er berichtet, dass dort zuweilen ein Loch in den Schiffsboden gebohrt werde, wenn die italienische Küste in Sicht sei. Wenn das Schiff dann sinke, würden die Insassen von der italienischen Küstenwache gerettet, einschließlich der Mannschaft. Das sei das Kalkül einiger Schlepper.

Früher schmuggelte die Mafia Drogen, heute Menschen

Die Wirklichkeit sieht oft anders aus. „Es gibt schlimme Geschichten, wie sie die Flüchtlinge behandeln“, sagt Hadi. Das Geschäft liege fest in der Hand einer ägyptischen Mafia in Raschid. Die würden auch die Boote in Burdsch al-Burullus kaufen, niemand anders.

In Raschid sind drei sogenannte „Flüchtlingsvermittler“ bereit, zu sprechen. Vom Flair der einstigen florierenden Handelsmetropole sind nur noch wenige gut renovierte Häuser und eine Moschee übrig geblieben. Ansonsten ist die Stadt wie der „Crystal Club“, in dessen Klubhaus die Vermittler Platz genommen haben: marode.

„Früher haben wir von Raschid aus Zigaretten und Drogen rübergeschmuggelt“, sagt einer von ihnen . „Heute sind es Menschen.“ Nur einer ist bereit, seinen Spitznamen zu veröffentlichen.

Nur etwa zehn Männer hielten das Flüchtlingsgeschäft in ihren Händen, erzählt Naggy, einer der Broker, die Ausreisewillige zu den Schleppern bringen. „Die Bosse sind alle Ägypter mit guten Kontakten nach Italien.“

Naggy ist erst 32 Jahre alt, hat es aber bereits zu beträchtlichem Wohlstand gebracht, den er vorzeigt. Er trägt schicke spitze Schuhe, ein weißes, paillettenbesetztes Seidenhemd, eine schwarze elegante Hose und eine Rolex am Handgelenk.

Ein Vermittler müsse den Transport von Land bis auf die großen Fischkutter organisieren, sagt er. Dafür werden kleine Fischerboote oder auch Schlauchboote benutzt. Manchmal würden die Flüchtlinge in Privatquartieren untergebracht, bis es losginge. Von Kafr al-Scheich, Raschid oder anderen Orten ginge es den Nilarm entlang aufs offene Meer. Dort werden die Menschen dann „umgeladen“ und nach Italien verschifft.

Wie Flüchtlinge aus Ägypten zu Syrern werden

Der Broker kassiert eine Provision. Wenn sich die Schiffe der italienischen Küste näherten, werde die Küstenwache verständigt, die die Flüchtlinge dann abhole.

Dem Broker zufolge fahren mittlerweile nicht nur Syrer und Schwarze aus Somalia und Eritrea von hier aus nach Europa. Ägypter würden mittlerweile fast die Hälfte der Flüchtlinge ausmachen, die Zahl der Syrer sinke.

Allerdings bekämen diese ohne Probleme Zugang zur EU. In Alexandria gäbe es deshalb Kurse unter dem Motto „Wie werde ich Syrer?“, in denen ägyptische Flüchtlinge den syrischen Dialekt lernten und sich eine syrische Identität aneigneten.

Vor allem minderjährige Ägypter treten den Weg nach Europa an. Seit April sei die Zahl unbegleiteter Kinder unter den Flüchtlingen dramatisch angestiegen, informiert die Internationale Organisation für Migration (IOM), im Vergleich zum Vorjahr auf das 37-Fache. Während die Ägypter im Gesamtkontext noch nicht die Mehrheit der Migranten ausmachten, lägen sie bei den Minderjährigen mit Abstand (66 Prozent) vorne.

Die Flucht Minderjähriger aus Ägypten hat derartige Dimensionen angenommen, dass selbst die Regierung in Kairo sich des Problems annimmt. Ein Komitee zur Vermeidung illegaler Migration will Perspektiven für Jugendliche schaffen, damit sie im Land bleiben, berichtete die Tageszeitung „al-Ahram“.

Naggy sieht seine Tätigkeit jedenfalls nicht kritisch. Hier in Ägypten gebe es keinen Respekt für niemanden. Deshalb finde er nichts Schlimmes dabei, die Menschen nach Europa zu bringen. Sie hätten dort ein besseres Leben.

„Schauen Sie doch, wir sterben hier“, sagt der Flüchtlingsvermittler und zeigt auf die herumlungernden Jugendlichen ohne Job und Perspektive, die Müllberge und den Dreck, die den Nilarm in Raschid säumen. „Jederzeit würde auch ich nach Europa gehen – aber nicht im Boot.“

Mitarbeit: Mohammed Khalil

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