26. Februar 2015 · Kommentare deaktiviert für Melilla, EU-Zaun: Anlaufstelle in Nador – Reportage nzz · Kategorien: Marokko, Spanien

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„Flüchtlinge vor Melilla. Der Pater und die Afrikaner am Grenzzaun

Beat Stauffer, Nador

Esteban Velazquez ist ein spanischer Jesuitenpater, der in der marokkanischen Kleinstadt Nador eine Anlaufstelle für afrikanische Flüchtlinge unterhält. Er berichtet von unmenschlichen Zuständen am Hochsicherheitszaun von Melilla.

Die Kirche Santiago el Mayor im Zentrum von Nador ist unübersehbar, auch wenn ihre Glocken schon lange nicht mehr läuten. Das auffällig gelb gestrichene Gotteshaus, vor dem ein paar uralte Gummibäume stehen, ist seit Jahren lebenswichtige Anlaufstelle und medizinischer Notfalldienst für Tausende von schwarzafrikanischen Migranten, die in Europa ihr Glück versuchen wollen. All jene, welche via Algerien nach Marokko gelangt sind, landen unweigerlich in den bewaldeten Hügeln in der Umgebung der Hafenstadt Nador: im mittlerweile legendären Lager auf dem Gourougou , aber auch an anderen Orten in Sichtweite der spanischen Enklave Melilla. Dort warten sie auf einen geeigneten Moment, um den Hochsicherheitszaun zwischen Marokko und Spanien zu stürmen.

[…] Die meisten dieser Migranten kommen früher oder später mit dem Jesuitenpater Esteban Velazquez Guerra in Kontakt: dann nämlich, wenn sie an kalten Wintertagen in ihren Sandalen und Sommerkleidern fast erfrieren, wenn sie krank werden, wenn sie sich beim Erklimmen der hohen Grenzzäune verletzen oder von Grenzwächtern zusammengeknüppelt werden.

Esteban Velazquez Guerra, den hier alle nur Père Esteban nennen, setzt sich in Nador seit einigen Jahren für afrikanische Migranten ein. Der auf den Kanarischen Inseln geborene 67-jährige Jesuitenpater ist offiziell Delegierter für Migration des Erzbistums von Tanger. […]

Esteban Velazquez‘ unbedingter Einsatz für afrikanische Flüchtlinge, die an der europäischen Aussengrenze stranden, ist die wohl letzte Station seines beinahe 50-jährigen Wirkens als Jesuitenpater. Immer der sozialen Gerechtigkeit und dem Kampf für die Rechte der Ärmsten verpflichtet, stand er lange der lateinamerikanischen Befreiungstheologie nahe und lebte auch sieben Jahren lang in El Salvador. Heute sei ihm allerdings die Praxis der Befreiung wichtiger als die Theorie, sagt er lakonisch.

In der Beratungsstelle für illegal eingereiste Migranten, zu der auch ein Berufsbildungszentrum für randständige marokkanische Jugendliche gehört, hat sich an diesem Tag eine Gruppe spanischer Parlamentarier angemeldet. Nun sitzen wir alle im kleinen Empfangsraum und lauschen den Ausführungen des Paters. Die Arbeit seines Teams, zu dem auch die Ordensschwester Francisca, der Sozialarbeiter Ibrahim Touré sowie weitere Personen gehören, habe vier Schwerpunkte, sagt Velazquez. Erstens: Begleitung und Unterstützung der Migranten im Fall eines Spitalbesuchs. Zweitens: ein Notfalldienst rund um die Uhr bei schweren Verletzungen oder Erkrankungen. Drittens: allen Bedürftigen überlebenswichtige Materialien wie Plasticblachen, Schuhe oder Winterkleider zur Verfügung zu stellen. Schliesslich engagiert sich die Delegaçion auch für die Sensibilisierung bezüglich sexuell übertragbarer Krankheiten sowie anderer gesundheitlicher Probleme unter den Migranten. Unterstützt wird das Zentrum von verschiedenen staatlichen und privaten Stellen, unter anderem auch von der Deza.

Mit nüchtern wirkender Stimme spricht der Pater von unmenschlichen Zuständen. Junge Männer, die sich beim Erstürmen der Zäune an den messerscharfen Drähten schwer verletzt haben und erst nach Stunden in ein Spital eingeliefert werden. Augenverletzungen durch Gummischrot. Vergewaltigungen und erzwungene Prostitution. Überfälle und auch gewalttätige Konflikte unter den Migranten. […]

Padre Esteban wägt seine Worte vorsichtig ab, wenn er die gegenüber den Subsahariens ausgeübte Gewalt thematisiert. Sein Gastland ist empfindlich bei diesen Themen, und der Pater steht deswegen unter Beobachtung. Er könne bloss wiedergeben, was ihm die Migranten erzählten, sagt er. Demnach sollen die Forces auxiliaires, die Sicherheitskräfte auf marokkanischer Seite, für die meisten Verletzungen durch Schlagstöcke und ähnliches verantwortlich sein. Auf das Konto der spanischen Guardia civil gingen hingegen Gesichts- und vor allem Augenverletzungen durch Gummischrot.

«Das ist die Version der Betroffenen», betont Padre Esteban. Laut den marokkanischen Sicherheitskräften üben viele Migranten aber auch selber Gewalt gegenüber Grenzwächtern aus. Genau aus diesem Grund wäre es dringend nötig, an diesem Hotspot der afrikanischen Migrationsrouten internationale Beobachter zu stationieren, sagt Velazquez. Dies habe auch der europäische Kommissar für Menschenrechte gefordert. Doch das Anliegen werde offensichtlich sabotiert; weder Spanien noch Marokko hätten Interesse daran, in dieser Sache Transparenz herzustellen. Im Gegenteil: Immer mehr, so konstatiert Velazquez, komme es zu direkten, sogenannt heissen Rückführungen von illegal eingereisten Migranten, die den Grenzzaun überwunden hätten. So wurden am letzten Januarwochenende rund 400 Migranten umgehend nach Marokko zurückgeschafft, ohne dass sie in Spanien hätten einen Asylantrag stellen können. Für Velazquez eine eindeutige Verletzung internationaler Verpflichtungen der beiden Staaten.

Hat sich die Lage für seine Schützlinge in letzter Zeit verbessert? Die Antwort fällt negativ aus. Zwar hätten auch in Nador ein paar Migranten – vor allem Frauen – Papiere erhalten. Doch bezüglich der Grundrechte stehe es nach wie vor schlecht. Velazquez‘ Befürchtung, dass «die neue, deutlich härtere Migrationspolitik», welche in Marokko unter spanischem Druck praktiziert werde, dazu führen könnte, dass die Lager der Flüchtlinge in den Wäldern oberhalb von Nador mit Gewalt geräumt würden, hat sich kurz nach dem Interview bewahrheitet. Doch hilfsbedürftige Migranten werden auch weiterhin in Nador stranden.“

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