24. Juli 2014 · Kommentare deaktiviert für Mittelmeer: „Menschlichkeit über Bord werfen“? – nzz · Kategorien: Italien, Libyen, Mittelmeerroute · Tags: , ,

„Flüchtlingsstrom im Mittelmeer

Es werden noch mehr kommen

Andres Wysling

[…] Im Mittelmeer treffen, das wird seit zwei Jahren zunehmend deutlich, zwei Welten aufeinander: der «Norden» und der «Süden», die Welt der Habenden und die Welt der Habenichtse. Und vor allem: die Welt der geordneten Gesellschaften, die trotz jahrelanger Wirtschaftskrise immer noch funktionieren und produzieren, und die Welt des Chaos, wo die staatlichen Strukturen zusammengebrochen sind und damit auch das Wirtschaftsleben. Die Flüchtlinge kommen aus Krisenländern und Kriegsgebieten, aus afrikanischen Staaten, aber auch aus Syrien und dem Irak, aus Pakistan und Afghanistan. Sie fliehen vor Armut oder Gewalt, oft vor beidem, in der Absicht, sich in einem gelobten Land eine sichere und bessere Existenz aufzubauen.

Viele der Flüchtlinge sind junge Männer, auch minderjährige Buben, die ihr Glück versuchen. Doch zunehmend kommen ganze Familien mit Kindern, und manchmal kommt es auf den Booten zu einer Geburt. Und Hunderte ertrinken auf der Überfahrt übers Meer. Die Flüchtlinge müssen jede Aussicht auf Besserung in ihren Heimatländern aufgegeben haben, wenn sie den Ausweg in der gefährlichen Reise nach Europa suchen. Die Flucht durch die Wüste und übers Meer, die rettende Arche und die Suche nach einer Herberge – das sind biblische Szenen. Auch die Dimensionen sind bald biblisch: Es kommen immer mehr Leute.

Meere trennen nicht, sie verbinden. Dass diese These stimmt, zeigt sich im Mittelmeer besonders deutlich, quer durch die Geschichte. Es ist ein offener Raum, wo Begegnungen aller Art möglich sind, gewollte und ungewollte, freundliche und feindliche. Der Begriff «Mare nostrum» unterstrich einst den Herrschaftsanspruch Roms in diesem Gebiet. Heute steht er für eine italienische Polizeioperation, die weniger der Abwehr der Zehntausende von Migranten dient als vielmehr ihrer Rettung und Aufnahme. Sie hatte die paradoxe Wirkung, dass sogar im Winter Schlepper mit ihrer menschlichen Fracht hinausfuhren, im Vertrauen darauf, dass Rettung dann schon komme.

Die italienische Regierung sieht sich durch ihre Polizeiaufgabe überfordert und möchte sie der EU-Behörde für den Schutz der Aussengrenze, Frontex, übertragen. Doch müsste logistisch die Situation zu bewältigen sein. Die Patrouillenfahrten der Küstenwache, die Aufnahme und Registrierung der Ankömmlinge, die Bereitstellung von Unterkünften bedeuten wohl einen Aufwand an Personal und Geld, aber dieser ist zu leisten. Schwieriger wird es im Sozialen und Politischen. In Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit werden ausländische Billigarbeitskräfte nicht unbedingt willkommen geheissen. Wenn die Ankömmlinge dazu noch dunkle Haut haben oder Muslime sind, wird es erst recht schwierig. In Griechenland gab es Ausschreitungen gegen die unerwünschten Fremden, Xenophobie und Rassismus beeinflussen zunehmend die politische Agenda. In Italien und Spanien sind derlei Szenen ausgeblieben, doch auch hier mottet der Unmut. […]

Man muss sich darauf einstellen: Kriege und Armut werden die Migration weiter antreiben. Man ist gegen sie ziemlich machtlos – weil man die Menschlichkeit nicht über Bord werfen will.“

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