22. Mai 2014 · Kommentare deaktiviert für Flüchtlinge in Berlin und die Zukunft des Protests · Kategorien: Nicht zugeordnet

via Jungle World

„Wir müssen mit einer Stimme sprechen“

Auch Wochen nach der Räumung des Flüchtlingscamps am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg dauert der interne Konflikt zwischen den ehemaligen Besetzern an. Den Flüchtlingen, die sich auf den Deal mit dem Berliner Senat eingelassen haben, wurde von vielen Seiten vorgeworfen, den Protest verraten zu haben. Öffentlich kamen sie bisher selten zu Wort.

von Christian Jakob

Es sei kein schlechtes Geschäft gewesen, sagt Ahmed Salisu. Vorher habe er »mit Ratten im Schmutz gewohnt«. Wenn er morgens aufwachte, wusste er nie, was er den ganzen Tag tun sollte; sich zu waschen, war jeden Tag aufs Neue ein Problem. Dazu die Blicke der Passanten. Rassismus, das hat Salisu da gemerkt, funktioniert auch ohne Worte. Dann die, die nicht bloß abfällig glotzten. »Das hier ist nicht Afrika, geht dahin, wo ihr hergekommen seid«, sagten sie. Und die, die weitergingen. Das von Unbekannten gelegte Feuer im Toilettenhäuschen. Die Angriffe auf den Infopunkt. Die Zeltküche, in der Salisu am Anfang oft für alle gekocht hatte. Teuer war das nicht, sagt er. 70 Euro reichten für Reis, Hähnchen, Tomaten, und alle im Camp wurden satt. Doch am Ende war das Spendekonto leer und die Teller blieben es auch. Nein, Ahmed Salisu bedauert es nicht, den besetzen Oranienplatz nach fast 14 Monaten verlassen zu haben. Und er bedauert es nicht, als Mitglied der Verhandlungsgruppe die umstrittene Vereinbarung mit der Berliner Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) unterschrieben zu haben. Der Vertrag bedeutete das vorläu­fige Ende von 18 Monaten mutiger Proteste im Zentrum Berlins – aber aus Salisus Sicht wurde für Hunderte Flüchtlinge womöglich eine Perspektive eröffnet: »Es war das, was die Leute im Camp wollten«, sagt er. Was aber ist mit denen, die ihm deshalb Verrat, die Zerstörung des Widerstands und die Kapitulation vor dem Staat vorwerfen? »Es musste sein. Wir wollten etwas Neues.«

Das Neue sah so aus: Im Tausch für den Zeltplatz gab es für einen Teil der Flüchtlinge vom Oranienplatz kleine weiße Plastikkarten. Auch Salisu hat eine bekommen. »Teilnehmer Vereinbarung Oranienplatz« und »Gültig nur in Verbindung mit einer Krankenversicherungskarte«, steht darauf. Salisu hat die Nummer 31. Die Karte berechtigt zum Bezug von 362 Euro im Monat, die im Wohnheim bar ausbezahlt werden.

Salisu ist in ein ehemaliges Hostel im Berliner Stadtteil Friedrichshain gezogen. Am Eingang stehen bullige Wachmänner, Besuch zu empfangen ist schwierig. Sein Zimmer teilt er mit einem Mann aus Niger, sie sprechen dieselbe Sprache, manchmal kochen sie zusammen in der Gemeinschaftsküche. Duschen kann er in seinem eigenen Bad nun jeden Morgen, »und wenn ich will, auch zweimal am Tag«. Vor allem aber: »Wir müssen nicht mehr um Hilfe betteln.«

467 Leute sollen auf der Liste gestanden haben, die die Flüchtlinge dem Berliner Senat übergeben haben. Wie viele von ihnen die Karte bisher bekommen haben, ist unklar. Es kursiert eine Zahl von etwa 250. Viele haben Schwierigkeiten, weil sie zunächst aus Angst vor der Abschiebung andere Namen angegeben haben als jene, unter denen sie bei den Behörden registriert sind. Die Korrektur ist mühselig. Andere wurden offenbar gar nicht erst aufgeschrieben – weshalb, ist unklar. Der Senat hat bislang nicht für alle einen Platz gefunden, nicht alle bekommen die Sozialleistungen. Und die versprochenen Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln haben noch nicht begonnen – erst will der Senat die Liste abarbeiten. So dauert es lange, bis die Aussicht auf eine Duldung, später möglicherweise eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Anerkennung als politischer Flüchtling etwas konkreter wird. Oder eben nicht – denn eine Garantie konnten die Flüchtlinge dem Senat nicht abringen.

Sechs Wochen ist die Räumung des Protestcamps nun her und für Ahmed Salisu waren es nicht die schlechtesten Wochen seiner bislang vier Jahre dauernden Flucht aus dem von Kämpfen zwischen Christen und islamistischen Milizen erschütterten Jos in Zentralnigeria, sagt er. 2010 eskalierte dort die Lage, es gab Bombenanschläge und Tote. 25 Jahre alt war der ausgebildete Elektriker, in Jos hielt ihn wenig. Der Weg durch die Wüste dauerte Wochen, am Ende landete er im libyschen Siirt, der italienische Baukonzern Gama brauchte dort Leute, die Leitungen verlegen konnten. Doch kurz darauf detonierten auch in Libyen Bomben, Menschen starben. Die Soldaten kamen. »Liebt ihr Gaddafi?« fragten sie. Und: »Wollt ihr für ihn kämpfen?« Nein, Salisu war nicht zum Kämpfen gekommen. Am 28. April bestieg er ein Boot. Zwei Tage später erreichte er Lampedusa. Das italienische Militär brachte ihn nach Bari, im August 2011 hatte er seine Anhörung bei der Asylkommission. Noch am selben Tag wurde er als politischer Flüchtling anerkannt. Er bekam eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre, aber einen Job fand er nicht. Als im August 2012 die Nothilfemittel für die Opfer des Libyen-Krieges aufgebraucht waren, saß er auf der Straße. Fünf Monate später kam er nach Berlin.

In die Flüchtlingsproteste ging er voller Hoffnung, begeistert von der politischen Dynamik. Er zeigt Fotos von sich mit den Grünen-Politikern Cem Özdemir und Simone Peters. »Claudia Roth hat uns eingeladen«, erzählt Salisu. Die Flüchtlinge haben ihre Kontonummern verteilt und ihre Forderungen vorgestellt. Warum wurde er Sprecher der Verhandlungsdelegation? »Ich habe gesagt, dass alle die gleichen Probleme haben«, sagt er, »da dachten die Leute, ich würde etwas bewirken können.«

Hakim Bello gehört zu denjenigen, die zunächst nicht unterschrieben haben. Er war wie Salisu Mitglied der achtköpfigen Delegation. 15 Mal haben sich Flüchtlinge zu Verhandlungen mit Senatorin Kolat getroffen, über 50 Stunden gemeinsam diskutiert: »Wir haben uns große Hoffnungen gemacht«, sagt Bello, und die Chancen, so dachte er, stünden gar nicht so schlecht. Schließlich musste sich Kolat mit ihnen einigen, »um eine Räumung zu verhindern, die nur im ­Desaster enden konnte.« Die Forderung der Flüchtlinge war klar: Sie wollten eine Lösung für die ­gesamte Gruppe, Aufenthalts- und Arbeitsrecht für alle. Doch das lehnte Kolat ab. Ihr Angebot: Eine individuelle Prüfung aller Fälle, inklusive jener mit italienischem Aufenthaltstitel wie Bello und Salisu. Am Ende lautete die Vereinbarung: Duldung und eine »wohlwollende Prüfung« der Anträge auf Aufenthalt. Dazu Unterkunft und Sozialleistungen. Im Gegenzug sollten die Schlafzelte abgebaut werden. Doch die Vereinbarung, sagt Bello, habe keinen Bestand gehabt: »Kolat musste sich mit Innensenator Frank Henkel abstimmen. Und der hat so viel zurückgenommen, dass der Kompromiss für uns nicht mehr annehmbar war.« Insbesondere die Flüchtlinge mit deutschem Asylverfahren kamen schlecht weg. Kolat habe dann nur den Teil der Verhandlungsdelegation unterschreiben lassen, der einverstanden war – unter ihnen vor allem »Lampedusas«, die nach italienischem Aufenthaltsrecht bereits anerkannt waren und vor allem eine Arbeitserlaubnis wollten. Nur Zwei der acht unterschrieben; einer davon war Salisu. Kolat sprach gegenüber den Medien von einer Einigung mit »den Flüchtlingen«.

Auch Bello ging deshalb an die Presse. »Ich habe gesagt: Das ist kein Konsens, wir wurden übergangen.« Viele nahmen ihm das übel. »Die haben nur gehört: Es gibt Geld und Wohnungen. Der Druck auf mich wurde dann immer größer, es gab Beschimpfungen und Angriffe, auch körperlich«, sagt er. »Ihr bremst das aus, euretwegen bekommen wir nichts«, hieß es. Dabei hätten viele, die ihn zur Zustimmung drängen wollten, kaum etwas über den Kompromiss gewusst. Hakim hat nicht unterschrieben, »weil es kein Angebot für die Leute mit deutschem Asylverfahren gab«, sagt er. »Die müssten in ihre alten Heime zurück, für sie hätte sich nach all den Protesten nichts geändert.« Bello fand: »Alle sollten dasselbe bekommen.« Später machte Kolat einige Zugeständnisse, Bello gab seinen Widerstand auf. Doch an dem Grundkonflikt zwischen den Flüchtlingen mit deutschem Asylverfahren und jenen mit italienischen Papieren änderte sich nichts.

Es waren denn auch erstere, die am Tag der Räumung die Proteste fortsetzten. Am 8. April rissen einige der Flüchtlinge mit Gewalt alle Hütten auf dem Platz ab, um ihren Teil der Vereinbarung mit Kolat zu erfüllen, während andere vergeblich versuchten, sich ihnen in den Weg zu stellen. Eine Geflüchtete erklomm daraufhin einen Baum auf dem Platz und kam tagelang nicht wieder herunter. Andere errichteten in Sichtweite des Camps ein neues Protestlager und aßen drei Wochen lang nichts mehr. Für sie war klar: Die Vereinbarung mit dem Senat war nichts wert, denn das, wofür sie angetreten waren, waren nicht bloß ein paar Plastikkarten. Sie wollten ein Ende aller Abschiebungen und ein ganz neues Asylrecht.

»Der Hungerstreik und die Baumbesetzung waren gut für das Image des Oranienplatzes, dass wir uns nicht so einfach haben wegmachen lassen«, sagt Hakim heute. »Aber vor allem war es gut für das Image der Baumbesetzerin.« Viel Eitelkeit sei da im Spiel gewesen, viel Selbstdarstellung. Das habe sich auch am Ende der Aktion gezeigt: »Kolat hat einfach eine Postkarte geschrieben, auf der stand, was ohnehin von Anfang an klar war: Dass wir einen Infopunkt auf dem Platz behalten können. Das wurde dann stolz der Presse präsentiert, als großer Sieg.« Er schüttelt den Kopf. »Wir müssen mit einer Stimme sprechen, sonst kommen wir nicht weiter«, sagt er.

Hakim wirkt nachdenklich, etwas niedergeschlagen. Ihm gehe es gut, sagt er, aber er braucht lange für die Antwort. Der 30jährige stammt wie Salisu aus Nigeria, wie es ihm dort erging, darüber will er nicht sprechen. Er will aber über »den Prozess« reden, wie er es nennt: »Der läuft schlecht«, sagt er, »Kolat kümmert sich nicht. Am Anfang hieß es, sie vertritt den Senat, der habe sie beauftragt, mit uns zu verhandeln.« Heute ist er sich da nicht mehr so sicher: »Die Verwaltung trägt die Abmachung nicht mit, sie bremst alles aus.« Dass die Ausstellung der Karten so schleppend verläuft, sei fatal: »Solange das nicht läuft, geht nichts voran.«

Ebenso wie bei Salisu und den meisten anderen der einstigen Platzbesetzer ist völlig offen, ob er auf Dauer in Deutschland bleiben kann oder ob er nach Italien zurück muss. Jeden Tag rufen ihn Flüchtlinge an, seine Nummer haben viele, weil er zur Verhandlungsdelegation gehörte, jetzt soll er vermitteln, bei den Behörden helfen. Dabei würde er lieber nähen. Für 70 Euro hat er sich auf dem Flohmarkt eine Nähmaschine gekauft, in Libyen war er Schneider: »Kleider für Frauen machen in einem islamischen Land, du kannst dir vorstellen, wie kompliziert das ist«, sagt er. Aber jetzt ist er ja hier und will für Hippies schneidern oder für Hipster, so genau hat er das noch nicht entschieden. Die jedenfalls dürften eine unproblematischere Klientel darstellen. Afrikanischer Stoff, aber westliche Schnitte, so stellt er sich das vor, verkaufen will er auf der Straße, in Parks. Aber ihm fehlt nicht nur die Zeit – ihm fehlt auch das Geld für Stoff. »Die 360 Euro reichen gerade so zum leben.« Ihn ärgert besonders, dass Politiker der CDU die Flüchtlinge öffentlich beschuldigt haben, die Sozialleistungen doppelt zu kassieren.

Mit 61 weiteren Oranienplatz-Flüchtlingen ist er in ein Heim in Berlin-Neukölln einquartiert worden. Auch Hakim teilt sich das Zimmer mit einem Mann, ein Malier. In Neukölln gibt es Deutschkurse, zwei Stunden jeden Tag. Die Sozialarbeiter ermutigen die Flüchtlinge, teilzunehmen. »Das ist gut so«, sagt er, aber sein Kopf sei noch nicht frei dafür: »Wenn alles andere so wackelig ist, kann man sich nicht auf Sprachenlernen konzentrieren.«

Der Vereinbarung mit Kolat stand er kritisch gegenüber, heute hat er seine Meinung etwas geändert: »Man sollte diesen Prozess jetzt unterstützen, sonst springt für die Flüchtlinge am Ende gar nichts raus«, sagt er. »Viele dachten, es geht alles ganz schnell, aber so läuft das natürlich nicht. Was wir jetzt haben, ist nicht das, was wir wollten, aber es ist ein Anfang.«

Am vergangenen Samstag begann die nächste, womöglich größte Etappe des Flüchtlingsprotests: Der Marsch von Straßburg nach Brüssel, ins Zentrum der europäischen Politik. Die Berliner Flüchtlinge haben das Projekt seit Monaten vorbereitet. Hier geht es nicht um ein paar Wohnplätze oder Duldungen, hier geht es wieder um das Ganze: Kriege, Ausbeutung, Rassismus, Lampe­dusa, das Dublin-System. »Natürlich gehe ich mit«, sagt Hakim. Er hofft, dass die internen Konflikte auf dem Marsch überwunden werden: »Vielleicht schaffen wir es dort, wieder mit einer Stimme zu sprechen.«

Wenige Stunden darauf, es ist schon spät am Abend, ruft Hakim an. Er ist aufgewühlt. Der erste Flüchtling auf der Liste wurde verhaftet, als er seine Duldung verlängern lassen wollte. Dabei sollte die Oranienplatz-Karte genau davor schützen, sagt er. Doch die Ausländerbehörde im sachsen-anhaltinischen Eisleben hat sich für das Plastikkärtchen nicht interessiert. Für sie war der abgelehnte Asylbewerber aus Nigeria ein Dublin-Fall wie alle anderen auch. Sie nahm ihn in Abschiebehaft. Erst wenige Tage zuvor waren Inhaber der weißen Karte am Berliner Ostbahnhof von der Bundespolizei aufgegriffen und angezeigt worden: Wegen illegaler Einreise zur Asylantragstellung. Auch die Polizisten hatten sich nicht für den Deal mit Kolat interessiert. So war das nicht gedacht, sagt Hakim: »Die Behörden brechen ihr Wort.«

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