23. Januar 2014 · Kommentare deaktiviert für „Rebellion der Flüchtlinge: von EU-Außengrenzen bis in Innenstädte“ (ak, Helmut Dietrich) · Kategorien: FFM-Texte, Mittelmeerroute · Tags: , , ,

ak 590 vom 21.1.2014

Mobilität als Organisationsweise

Rebellion der Flüchtlinge: Von den EU-Außengrenzen bis in die Innenstädte

Die Meldungen über Flüchtlingsproteste in Europa und auch südlich des Mittelmeers reißen seit über einem Jahr nicht mehr ab. Nicosia, Tel Aviv und Jerusalem, Melilla, Calais, Amsterdam, Wien, Berlin – die Liste der Städte, auf deren Plätzen Flüchtlinge ihre Protestcamps aufgeschlagen haben, ist lang geworden. Überall sind es die gleichen Forderungen, mit existenzieller Entschiedenheit vorgetragen: Würde, Abschaffung der Lager, der Arbeitsverbote und Durchsetzung gleicher sozialer und politischer Rechte, die die einheimischen BürgerInnen haben. Hunger- und sogar Durststreiks gibt es. Hinzu kommen landesweite Aufstände in Abschiebegefängnissen in Italien, Ungarn, Bulgarien und anderswo.

So schnell, wie die Meldungen über die neuen Medien kommen, so einfach ist es, mithilfe protestierender Flüchtlinge in einer Stadt persönliche Verbindungen zu Protestcamps in mehrtausend Kilometer Entfernung aufzunehmen. Auch Abgeschobene und auf der Flucht zunächst Gescheiterte treffen sich von Protestcamp zu Protestcamp wieder.

Und doch kann man nicht sagen, dass die Protestcamps übergreifend organisiert wären. Wo Organisation und Delegation entsteht, drohen die solidarischen Strukturen in Fraktionen zu zerfallen. Die YouTube-Selbstdarstellungen von Flüchtlingen im Protest sind visionär, aber Agendas und schriftliche Plattformdiskussionen bleiben dürr. Stattdessen entwickeln die Zeltenden Stärke durch ihre Präsenz in den Innenstädten, durch ihre sichtbare Entschiedenheit und durch die tausendfache Parallelität ihrer Proteste an unterschiedlichen Orten.

Diese kollektiven Aktionen der Flüchtlinge sind nicht in Parteien und Organisationen verankert, sondern in einer informellen, widerständigen Mobilität. Sie basieren auf dem Wissen über Verstecke, falsche Papiere und Legalisierungsmöglichkeiten. Die Flüchtlingswege entwickeln sich anhand der Netzwerke, die MigrantInnen vor ihnen über Länder und Kontinente gespannt haben.

Die Anzeichen für ein neues Selbstbewusstsein von Flüchtlingen sind unübersehbar. Syrische Bootsflüchtlinge, die ein italienisches Kriegsschiff vor Lampedusa aufbrachte, zeigten sofort nach Ankunft in Italien die Militärs wegen Diebstahl an: Jene hatten ihnen Geld und persönliche Dinge im Wert von über 100.000 Euro abgenommen und undokumentiert verschwinden lassen. Eritreische und somalische Flüchtlinge haben seit 2011 parallele Notrufsysteme für SOS auf See aufgebaut, die nun von dem Projekt WatchTheMed (1) öffentlich unterstützt und ausgebaut werden. Tunesische Harragas, die nach Beginn des tunesischen Aufstands nach Italien übersetzten und massenhaft in Abschiebehaft gesteckt wurden, brachten ihre Aufstandserfahrung ein. Sie hatten in Tunesien unter Ben Ali Polizeiwachen und lokale Regierungssitze angegriffen, nun griffen sie erneut Zwangseinrichtungen an. In allen italienischen Abschiebeknästen kam es 2011 zum Aufstand. Ein großer Teil der Einrichtungen wurde zerstört und ist bis heute nicht wieder in Betrieb.

Zugleich sind längs der Fluchtrouten transnationale politische Netzwerke entstanden, die wie Boats4People, WatchtTheMed, noborder oder Welcome to Europe (2) Unterstützungsrecherchen, neue Formen der Öffentlichkeitsarbeit und Intervention erproben. Auf diese Weise ist es in den letzten Monaten gelungen, zu den Schiffskatastrophen im Mittelmeer, zur Lagersituation der Flüchtlinge und zur rassistischen Entrechtung eine solch große kritische Öffentlichkeit zu schaffen wie nie zuvor in Zeiten der Festung Europa.

Aber die Schwächen sind auch hier nicht zu übersehen: Die Protestbewegungen gegen das Krisenmanagement in Südeuropa sind abgeebbt, eine Verbindung zu den arabischen Rebellionen ist nicht entstanden. Der Pakt der EU mit den (Militär-)Diktaturen und Regionalmächten des Nahen Ostens und Nordafrikas ist derzeit nicht gefährdet.

Es stellt sich daher die Frage: Gibt es nicht jetzt, wo angesichts des Massensterbens im Mittelmeer eine kritische Öffentlichkeit entsteht, eine Chance für eine transnationale Aktion im Mittelmeer, die zu einem Scharnier zwischen Flüchtlingen und UnterstützerInnen, zwischen Europa und den arabischen Aufständen, zwischen Wut in der Metropole und Kriegsflüchtlingen aus Syrien und vom Horn von Afrika werden könnte? Etwa ein Schiff, das vom Mittelmeer aus Radio macht, auf Lang- und Kurzwelle wie auch über Internet und Satellit, ein offener Radiokanal, auf dem die SOS-Rufe von Boatpeople direkt verbreitet werden, auf dem mehrsprachige Diskussionen mit Boatpeople und HörerInnen an Land geführt werden, auf dem die Harraga-Musik, der HipHop und der Rap aus den Aufständen, aus den Lagern und den Vororten gespielt wird. Oder eine selbstorganisierte Fähre, von Süditalien nach Tunesien und zurück, dann mit visa- und papierlosen Flüchtlingen an Bord!

Die Diskussion darüber, wie eine solche Allianz aussehen könnte, betrifft alle, die sich in den letzten Jahren in Bewegung gesetzt haben: Protestcamps und Choucha-Flüchtlinge, Blockupy-AktivistInnen und arabische Aufständische, Flüchtlings-UnterstützerInnen und NachbarInnen, lokal in Berlin-Kreuzberg, Calais, Amsterdam, und transnational.

Helmut Dietrich ist aktiv in der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration

Anmerkungen:

1) www.watchthemed.net
2) www.w2eu.info

 

Übersetzungen

[NL]

Mobiliteit als organisatievorm

Rebellie van vluchtelingen: van de buitengrenzen tot in de binnensteden van de EU

De berichtgeving over protesten van vluchtelingen in Europa en ten zuiden van de Middellandse Zee houden al meer dan een jaar aan. Nicosia, Tel Aviv en Jeruzalem, Melilla, Calais, Amsterdam, Wenen, Berlijn – de lijst met steden waar vluchtelingen op pleinen een protestkamp hebben opgezet, is lang geworden. Overal worden, met existentiële vastberadenheid, dezelfde eisen gesteld: een waardige behandeling, sluiting van de kampen, opheffing van het arbeidsverbod en het toekennen van dezelfde sociale en politieke rechten als de plaatselijke bevolking heeft. Er vinden honger- en zelfs dorststakingen plaats. En daarnaast zijn er ook nog landelijke opstanden in uitzetbajessen in Italië, Hongarije, Bulgarije en elders. […]

voor de complete tekst z.o.: http://www.doorbraak.eu/

Kommentare geschlossen.