30. November 2013 · Kommentare deaktiviert für Lampedusa: Eritreer berichten von Flucht nach Europa – nzz · Kategorien: Deutschland, Eritrea, Italien, Libyen

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„Flucht nach Europa

In Eritrea bleiben heisst bei lebendigem Leibe sterben

Eritrea ist eines der repressivsten Länder der Welt. Viele der vor Lampedusa ertrunkenen Flüchtlinge stammten von dort. Zwei Eritreer, denen die Flucht nach Europa gelang, erzählen von ihrer Odyssee.

Sabine Mohamed

Nennen wir ihn Jonas. Das ist nicht sein richtiger Name, aber er möchte seine Liebsten in Eritrea nicht in Gefahr bringen. Jonas packt den Geldbeutel aus mit den Bildern von Freunden und Familie. Aufgenommen in einem Fotostudio, vor einer Tapete mit Sonnenuntergang. Auf einer Foto sind fünf coole Teenager zu sehen. Er zeigt auf einen lachenden Freund. Der war auf dem Boot, das am 3. Oktober 369 Passagiere vor der Küste Lampedusas in den Tod riss. Sie sind zusammen in Äthiopien im Flüchtlingslager Mai Ayni gewesen. Seit einem Monat lebt der 16-jährige Eritreer im Jugendheim in der Nähe von Frankfurt am Main, nach drei Jahren Flucht. Mit 13 hat er realisiert, dass er keine Zukunft mehr hat, und flieht. Lässt seine Eltern und Geschwister zurück. Nachts bringt ihn ein Auto an die eritreisch-äthiopische Grenze, den Rest geht er mit einem Schulfreund zu Fuss. Er hat jemanden dafür bezahlt. Er wird noch oft zahlen. In äthiopischen Birr, sudanesischen Pfund, libyschen Dinar und Dollars. Den Anfangsbuchstaben des Namens seiner Mutter hat er auf seinen Arm tätowiert. Er vermisst sie. Aber er will nicht auf unbestimmte Zeit zum Militärdienst. Manche sind ihr Leben lang in den Baracken, andere bereits mit ihren Vätern in der zweiten Generation. […]

«Auf der Strasse trägt jeder eine Waffe», sagt er. Jeden Tag hört er Salven. Jugendliche, die Schwarze jagen, gehören zum Alltag. Abraham atmet durch. Nur ans Weiterkommen habe er gedacht. Das Gebäude, in dem sie anfangs untergebracht sind, gehört dem Schlepper Ali. Er ist HIV-positiv. Ali sage den Frauen, dass er das Virus von einer Eritreerin oder Äthiopierin habe und es jeder Frau von dort heimzahle, erzählt er. Ali sei der libysche Knotenpunkt des Schleppernetzwerks. Es führe kein Weg an ihm vorbei. Jeden Abend kommt er und holt sich eine Frau. «Nach ein oder zwei Nächten kam sie zurück, mit dem Virus.»

Abraham flieht, wird wieder gefangen und nach Sabha ins Gefängnis gesteckt. Dort ist der Krieg noch nicht vorbei. «Wir waren 400 Leute in einer Zelle, mit einer Toilette, die nach wenigen Tagen unbenutzbar war.» Er schläft im Sitzen, mit angezogenen Beinen. «Ich war einen Monat in Haft. Am schlimmsten waren die Christen dran. Sie wurden gefoltert, sie waren verloren.» Die Regel: Geschlagen werden alle. Nur wer schmiert, kommt heraus. Abraham reisst den Hosensaum mit dem Ersparten auf und schmiert. Als schwarzer Flüchtling ist man in Libyen vogelfrei, aber es besteht die Chance, ein Boot nach Europa zu ergattern.

Auch Jonas‘ Route führt nach Libyen. Auch er erzählt von HIV-Ali. «Ich wurde in den drei Jahren oft geschlagen», sagt der 16-jährige Eritreer. Sein Gesicht ist zart, seine Hände vernarbt – von den Fesseln in der Haft, der Krätze, als er sich im Kerker einen Monat nicht waschen darf. Viermal ist er im Gefängnis, in Tripolis steigt er dreimal ins Boot. Das erste Mal ertrinken sie fast, das zweite Mal nimmt sie die libysche Küstenwache fest. Beide Male muss er ins Gefängnis. Neun Monate bleibt er in Libyen, kratzt das Geld zusammen und hofft, dass es beim dritten Mal klappt.

«Alles, was ich wusste, war, dass ich hinaus aus Benghasi muss», erzählt Abraham. Er schafft es in die Hauptstadt. Von Tripolis ist der Seeweg nach Lampedusa kürzer. Für eine Überfahrt habe er 1600 Dollar bezahlt. Im April seien sie losgefahren. 300 Leute auf einem zweistöckigen, kleinen Boot. Im unteren Stock, wo Abraham sitzt, kommt Wasser rein. Es reicht ihm bis zum Bauch, dazwischen das Erbrochene der Seekranken. Die meisten sind Nichtschwimmer, zum ersten Mal auf hoher See, zehn Tage lang. «Wir haben Glück gehabt.» Sie landen in Lampedusa. Abraham findet, Italien sei wie Afrika, sie wollten aber nach Europa. «Arbeiten und das bessere Leben.» Schliesslich hat er einst Betriebswirtschaft studiert.

«Einige haben sich in Lampedusa im Müllcontainer versteckt, der wöchentlich nach Sizilien verschifft wird.» Auch er wird nach Sizilien gebracht. Er schlägt sich durch, nächtigt auf Bänken in Bahnhofshallen, unter Brücken. In Rom habe er die Müllcontainer-Passagiere wieder getroffen, obdachlos. Er fährt weiter, landet in Deutschland. Abraham und Jonas haben es geschafft. Jonas geht wieder zur Schule, er mag es da. Er schaut oft auf den tätowierten Anfangsbuchstaben des Namens seiner Mutter.“

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