„[…] Die Zahl der Ägypter mit Zugang zum Internet nimmt rapide zu. Gemäss Uno-Angaben stieg der Anteil der surfenden Ägypter zwischen 2010 und 2012 von 31 auf 44 Prozent. Dazwischen wurde Hosni Mubarak durch Volksproteste im Frühjahr 2011 gestürzt. […] Viele der über 80 Millionen Einwohner leben in Armut. Arbeiter verdienen kaum mehr als 70 Franken im Monat. In den Jahren vor dem Aufstand gegen Mubarak erfüllte der Staat vor allem die Funktion der Kontrolle des Volkes. Die Geheimpolizei war gefürchtet. Einfache Leute konnten jederzeit verhaftet werden. Mit der Erschliessung digitaler Räume seit 2000 kam es allmählich zu landesweiten Protesten und Streiks. 2008 reagierte die Bewegung des 6. April auf eine Welle von Streiks in den Textilfabriken von Mahalla mit der Errichtung einer Online-Plattform. So konnten Informationen über die Vorgänge im ganzen Land verbreitet werden. Es kam zu einer Allianz der Unterschichten mit Cyber-Aktivisten aus der Mittel- und Oberschicht, die dem Polizeistaat die Stirn bieten wollten und sich in Internetcafés oder volkstümlichen Kaffeehäusern trafen.Die Cyber-Revolutionäre spielten in der Organisation der Proteste gegen Mubarak eine wichtige Rolle. Nach der Absetzung Mubaraks schafften es die digital vernetzten Jugendbewegungen jedoch nicht, sich in der Politik des Landes zu behaupten. Stattdessen gewannen die Islamisten im Winter 2011/12 die Parlamentswahlen. Laut dem Medienforscher Adel Iskandar kombinierten sie institutionelle Netzwerke in armen Gebieten des Landes effizient mit koordinierten Online-Plattformen.Der Mobilisierung der Unterschicht kommt in der ägyptischen Politik seit Mubarak eine Schlüsselrolle zu. Hussam Hamalawi, ein prominenter Cyber-Aktivist und Gegner der Muslimbrüder, verweist in einer Youtube-Rede auf die Zukunft: Bald hätten die ärmsten Quartiere durch billige Mobiltelefone Zugang zur digitalen Welt. So könnten sie politisch für eine sozialistische Revolution mobilisiert werden. Die Verbreitung von Videos auf Mobiltelefonen würde es auch Analphabeten ermöglichen, sich an politischen Prozessen zu beteiligen. In Ägypten können gemäss Uno-Angaben 28 Prozent der über 15-Jährigen weder lesen noch schreiben. […] Nach der Januar-Revolution wandten sich viele Aktivisten aber wieder analogen Mitteln zu. 2011 machte die Gruppe «Militärs sind Lügner» mit Videoprojektionen im öffentlichen Raum darauf aufmerksam, dass die Armee 12 000 Leute ohne Haftbefehl verhaftet hatte und Demonstrantinnen mit Jungfräulichkeitstests schikanierte. Der Erfolg der Gruppe inspirierte im Frühjahr 2013 die Tamarod-Bewegung. Diese setzte bei der Mobilisierung zu Protesten gegen Präsident Mursi vor allem auf fotokopierte Flugblätter.Während der massiven Ausschreitungen zwischen den Sicherheitskräften und den Muslimbrüdern in den letzten Tagen wurden die Grenzen sozialer Netzwerke in der Überwindung des ägyptischen Polizeistaats erneut deutlich. Als anonyme Schlägertrupps am Mittwoch Zivilisten verprügelten, rätselten Cyber-Aktivisten auf Twitter, ob es sich dabei um Geheimpolizisten in Zivil handelte. Verbindliche Gewissheit über solche Vorfälle kann in den digitalen Datenströmen offensichtlich nicht entstehen. Für die Koordination von Protesten bleibt Twitter jedoch ein wichtiges Instrument. Islamistische Aktivisten verbreiteten logistische Details , wo Verwundete verarztet werden konnten und wo neue Proteste und Demonstrationen geplant waren. […]“