NachDenkSeiten | 20.06.2018
„Das humanitäre Risiko beginnt genau dann, wenn man die libysche Küste verlässt“ – so fasste Präsident Macron gestern Seit´ an Seit´ mit Bundeskanzlerin Merkel die gemeinsame deutsch-französische Flüchtlingsstrategie zusammen. Ein infamer Satz, wenn man bedenkt, dass das Auswärtige Amt den libyschen Flüchtlingslagern noch vor wenigen Monaten in einem durchgesickerten geheimen Bericht „KZ-ähnliche Zustände“ attestierte. Anspruch und Wirklichkeit prallen bei der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin immer stärker aufeinander und es ist und bleibt ein großes Rätsel, warum Angela Merkel für ihre angeblich „humane“ Flüchtlingspolitik wahlweise gelobt oder kritisiert wird. In Sachen Humanität unterscheidet sich Merkels Politik nämlich nur in Nuancen von den Flüchtlingslagern am Nordrand der Sahara.
Von Jens Berger.
Seit die EU-Agentur Frontex die Außengrenzen der EU abriegelt und Angela Merkel die „Balkanroute“ durch ihren Deal mit Erdogan de facto so gut wie dicht gemacht hat, bleibt den Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten meist nur noch die lebensgefährliche Fluchtroute durch die Sahara über Libyen und das Mittelmeer, um in der EU einen Asylantrag einzureichen. Humanitär ist dies ganz sicher nicht. In Libyen sind für die Flüchtenden Folter, Vergewaltigung (auch von Männern) und Zwangsarbeit an der Tagesordnung. Für weibliche Flüchtlinge ist sexuelle Gewalt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Drei von vier später befragten Flüchtlingen, die über Libyen in die EU kamen, berichteten von Folter und Mord an Reisegefährten, 84% erklärten, selbst Opfer unmenschlicher und entwürdigender Behandlung wie körperlicher Gewalt oder Folter geworden zu sein. Die International Organization for Migration schätzt die Zahl der Flüchtlinge, die in Libyen unfreiwillig gestrandet sind und dort als Zwangsarbeiter ohne Rechte „gehalten“ werden, auf 200.000. Derweil florieren im Lande die Sklavenmärkte, auf denen in grauenhaften Auktionen Flüchtlinge versteigert werden. So in etwa stellt man sich die Hölle vor. Nein, Monsieur Macron, das „humanitäre Problem“ beginnt nicht, wenn die Flüchtlinge die libysche Küste verlassen … umgekehrt wird ein Schuh draus.