06. August 2018 · Kommentare deaktiviert für Flucht über das Mittelmeer: Spaniens gefährlicher Sommer · Kategorien: Marokko, Spanien · Tags:

Zeit Online | 05.08.2018

Beinahe täglich gelangen Bootsflüchtlinge an die Südküste Spaniens. Die Opposition macht Stimmung gegen die Willkommenskultur der regierenden Sozialisten. Zu Recht?

Eine Reportage von Karin Finkenzeller, Algeciras

Kurz hinter Tanger ertönt die Schiffssirene zum ersten Mal. Von da an ist sie alle paar Minuten zu hören. Die Fähre Jaume III, die zwischen der Hafenstadt im Norden Marokkos und Algeciras in Spanien pendelt, ist in eine dicke Nebelwand gefahren. Die Sicht reicht nur ein paar Meter. „Bei so einem Wetter oder in der Dunkelheit gehen wir auf Nummer sicher“, sagt Jesús Márquez, einer der Stewards. „Falls Pateras in der Nähe sind, können sie uns ausweichen. Bisher hat das gut funktioniert. Wir hatten keinen einzigen Unfall.“

Pateras heißen die kleinen Kähne und Schlauchboote, in denen die Menschen aus Afrika in Richtung der spanischen Südküste aufbrechen. In den vergangenen Wochen kamen mehrere Tausend Flüchtlinge über die Straße von Gibraltar, auf der auch die Jaume III verkehrt. Sie ist mit nur rund 14 Kilometern die kürzeste Verbindung zwischen den Kontinenten Afrika und Europa. Die Fähre ist mit 32 Knoten unterwegs und braucht für die Überfahrt eine gute Stunde.

Für kleinere Boote ist die Straße von Gibraltar gefährlich. Nicht nur, weil sie eine der am meisten befahrenen Schiffsrouten ist, auf denen Fähren und Frachter dicht hintereinander folgen. Sie könnten die unbeleuchteten Flüchtlingskähne leicht zermalmen oder sie in ihrem Kielwasser versenken. Hier, wo sich Mittelmeer und Atlantik treffen, sind außerdem die Strömungen tückisch. Und in diesen Tagen kommt der Nebel hinzu.

Die Fähre alarmiert die Küstenwache

Vorige Woche, sagt Márquez, hätten er und seine Kollegen von anderen Fähren auf dem Küstenabschnitt zwischen Almería und Cádiz allein 17 Pateras gekreuzt. Manchmal mit rund zehn, manchmal mit viel mehr Menschen an Bord. „Wir nehmen die Flüchtlinge nicht selbst auf, sondern alarmieren Küstenwache und Seenotrettung und geben die Standorte durch.“

Manche der Boote erreichten die Küste auch aus eigener Kraft. Wie jenes Holzboot mit 60 jungen Männern an Bord, das vor wenigen Tagen westlich vom Surf- und Badeort Tarifa am Strand landete – direkt vor den verblüfften Touristen, die dort im Sand lagen. Die Migranten verschwanden eilig im angrenzenden Wald. Weil sie dabei gefilmt wurden, gingen die Bilder um die Welt.

Nach offiziellen Angaben erreichten bis Ende Juli rund 24.000 Flüchtlinge Spanien, so viele wie im ganzen Jahr 2017. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) stammen die meisten aus afrikanischen Krisenländern südlich der Sahara sowie aus Marokko, Mali und Mauretanien. Im Bundesinnenministerium in Berlin befürchtet man, dass sich viele Migranten von Spanien aus auf den Weg nach Frankreich, in die Beneluxländer und nach Deutschland machen könnten.

An diesem ersten Wochenende im August bleibt es vorerst beim Alarm der Schiffssirene. Der heiße Ostwind Levante, der das Meer aufwühlt, und die Nebelwände über der Straße von Gibraltar verschaffen auch Adolfo Serrano eine Atempause. Er ist der Leiter der Seenotrettung in Spaniens südlichster Stadt Tarifa. Aber es ist vermutlich nur eine kurze Pause, das weiß er aus seiner mehr als 20-jährigen Erfahrung auf dem Meer. In den nächsten Tagen soll sich die Wetterlage wieder beruhigen. Dann wird die Überfahrt für Migranten wieder leichter.

Spanien nimmt schon lange Flüchtlinge auf

Für die Menschen an Spaniens Südküste ist die Ankunft von Bootsflüchtlingen nichts Neues. Auch wenn Schlagzeilen von Spanien als dem „neuen Italien“ einen anderen Eindruck erwecken und vor allem konservative spanische Politiker den sozialistischen Regierungschef Pedro Sánchez in Madrid kritisieren.

Der Vorwurf: Sánchez habe sein Land für Flüchtlinge erst attraktiv gemacht, als er im Juni anbot, das seit Tagen im Mittelmeer umherirrende private Seenotrettungsschiff Aquarius in den Hafen von Valencia einlaufen zu lassen. Nun, so die Conclusio der Konservativen, hätten die Schleuser erkannt, dass Italien zwar keine Boote mehr aufnehme, wohl aber Spanien.

„Das stimmt nicht ganz“, widerspricht José-María Rodríguez von der Kommandantur der Militärpolizei Guardia Civil in Algeciras. Schon im vergangenen Jahr habe man zusätzliche Gebäude für die Geretteten ausfindig machen und sie in Bussen von den Häfen dort hinbringen müssen. „Die Nationalpolizei und die Helfer vom Roten Kreuz kamen schon 2017 gar nicht hinterher. Die bestehenden Unterkünfte waren überfüllt.“ Der Sozialist Sánchez hatte den seit 2011 amtierenden konservativen Regierungschef Mariano Rajoy von der Partido Popular (PP) aber erst vor wenigen Wochen, am 1. Juni, mit einem Misstrauensvotum gestürzt.

Manche Menschen, sagt Rodríguez, hätten vielleicht auch vergessen, dass Spanien bereits zu Beginn der Nullerjahre viele Tausend Flüchtlinge aufgenommen habe. Deren Ziele waren damals wie heute die südliche Festlandküste und die beiden spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Marokko, aber auch die Kanarischen Inseln. Das geschah, bevor die damals noch sozialistische Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero mit Marokko ein Abkommen schloss. Seither soll Marokko die Küsten des nordafrikanischen Königreichs für eine erhebliche finanzielle Gegenleistung der EU besser überwachen und keine Flüchtlingsboote ablegen lassen. „Aber wirklich aufgehört hat der Zustrom deshalb nicht“, merkt Rodríguez an. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit habe sich seitdem wohl auf die Fluchtroute zwischen Libyen und Italien verlagert.

140 Unbekannte in einem Grab

Auf dem Friedhof des Küstenorts Barbate westlich von Tarifa gibt es eine Nische für diejenigen Bootsflüchtlinge, die nur noch tot aus dem Meer geborgen werden konnten. „140 DESCONOCIDOS 13-08-00“, steht zum Beispiel auf der Tafel eines Schiebegrabs für die „140 Unbekannten“, deren Leichen hier im August 2000 bestattet wurden. Die jüngste Tafel gilt dem vierjährigen Samuel aus dem Kongo, der zusammen mit seiner Mutter im Januar 2017 im Meer starb. „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen“, steht darauf. Mitfühlende Friedhofsbesucher sorgen dafür, dass frische Blumen die Gräber schmücken.

Pablo Casado, ehrgeiziger Nachfolger des früheren PP-Parteichefs Rajoy, und der ebenfalls nach höheren Aufgaben strebende liberal-konservative Politjungstar Albert Rivera haben Flucht und Migration nun zu ihrem politischen Hauptthema gemacht. In den vergangenen Tagen reisten beide medienwirksam nach Ceuta. Dort hatten vor zehn Tagen nahezu 1.000 Afrikaner in einer konzertierten Aktion von der marokkanischen Seite aus die mit messerscharfen Klingen versehenen Grenzzäune gestürmt, um auf spanisches Gebiet zu gelangen. Als Grenzschützer sie aufhalten wollten, griffen die Migranten die Sicherheitskräfte mit bisher nicht gekannter Gewalt an: Sie attackierten sie mit Steinen, Molotowcocktails und Flammenwerfern.

Casado schüttelte zwar in Ceuta Hände von Afrikanern im dortigen Aufnahmezentrum und gab sich human. Gleichzeitig kritisierte er aber das „Ergebnis des Gutmenschentums“ von Premierminister Sánchez. In den Tagen zuvor hatte der PP-Mann mit politischem Kalkül Schreckensszenarien entworfen, die denen der AfD in Deutschland ähneln. Es sei unmöglich, dass Spanien „Millionen von Afrikanern“ aufnehme, mahnte er. Außerdem dankte Rivera den Grenztruppen für die Verteidigung des Vaterlandes. Ganz so, als befände sich Spanien im Krieg.

Kein „neues Lampedusa“

Auch in der südspanischen Hafenstadt Algeciras warnte der konservative PP-Bürgermeister José Ignacio Landaluce, seine Stadt werde zu einem „neuen Lampedusa“, wenn der Willkommenskultur der Sozialisten nicht Einhalt geboten werde. Solche Botschaften können für Sánchez und die politische Stabilität Spaniens gefährlich werden. Sánchez führt nur eine extrem schwache Minderheitsregierung, die von der Unterstützung der anderen Parlamentsparteien abhängig ist. Wenngleich er Umfragen zufolge derzeit der beliebteste Politiker seines Landes ist und 72 Prozent der Befragten in einer Umfrage Mitte Juli angaben, die Aufnahme der Aquarius-Flüchtlinge sei die richtige Entscheidung gewesen. Nur jeder Vierte findet die Migrationspolitik insgesamt gut und für genauso viele ist die Ankunft von Flüchtlingen ein „großes Problem“. Vor allem die Wähler der konservativen Oppositionsparteien äußerten sich kritisch.

Auch Ideen wie die des Migrationsforschers und Erfinders des EU-Türkei-Deals, Gerald Knaus, in Spanien zentrale Aufnahmezentren für alle in der EU ankommenden Flüchtlinge einzurichten, schüren im Land Ängste.

Migranten waren auf dem Bau gerne gesehen

Im Vergleich zu den Jahren nach der Jahrtausendwende braucht Spanien nämlich nicht mehr jede willige Arbeitskraft. Damals beschäftigten die Spanier dankbar Migranten auf Baustellen oder als Erntehelfer. Es waren Arbeiten, für die sich die Spanier längst zu schade waren. Illegal Eingewanderte wurden seinerzeit schubweise mit Aufenthaltstiteln und Arbeitserlaubnissen versorgt.

Die akute Krise nach dem Platzen der Immobilienblase 2008 und dem Zusammenbruch mehrerer Banken ist zwar überwunden. Insbesondere der Tourismus trägt auch in diesem Sommer wieder dazu bei, dass das Wirtschaftswachstum am Ende des Jahres vermutlich erneut das höchste in der Eurozone sein wird. Allerdings ist die Arbeitslosigkeit unter den Spaniern immer noch hoch, insbesondere in der Altersgruppe der unter 25-Jährigen. Viele Jobs sind prekär und werden mit maximal 1.000 Euro pro Monat entlohnt. Die Migranten, die mit ähnlich hochfliegenden Träumen nach Spanien kommen wie jene vor zwölf oder 15 Jahren, bekommen außer der medizinischen Versorgung kaum staatliche Unterstützung und finden nun womöglich auch kein Auskommen mehr durch eigene Anstrengung.

Die konservative Opposition um Casado und Rivera will Neuwahlen erreichen. Eine Probeabstimmung über den Haushalt für 2019 haben sie Sánchez deshalb vor wenigen Tagen bereits verlieren lassen. Dass die Migrationspolitik des Sozialisten die Spanier ähnlich aufwühlt wie der Levante-Wind das Meer, käme ihnen durchaus gelegen. Die Schiffssirene der Jaume III ist deshalb auch ein Warnsignal an Sánchez. Der Steward Márquez hat sein Urteil jedenfalls schon gefällt: „Wir sollten niemanden reinlassen.“

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