29. November 2016 · Kommentare deaktiviert für „Das Etikett Flüchtling geht am Problem vorbei“ · Kategorien: Afrika, Europa, Lesetipps

Quelle: Internationale Politik und Gesellschaft | 25.11.2016

Paul Collier über Migration, Flucht, überkommene Konventionen und das Ende von Revolutionen.

Von Flüchtlingen spricht derzeit kaum noch jemand. Ist die Krise vorüber?

Ganz und gar nicht. Bei der Flüchtlingskrise geht es in erster Linie um Flüchtlinge, nicht um Migration nach Europa. Das wurde offensichtlich, als sich die Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machten, oder besser gesagt, einige Flüchtlinge, eine relativ kleine Minderheit.

Doch die Ursache der Krise liegt darin, dass unser Flüchtlingssystem den Flüchtlingen nicht gerecht wird. Daher müssen wir dieses System dringend reformieren, damit es Flüchtlingen und allen anderen auch hilft. Wir haben etwa seit 1950 ein Flüchtlingssystem, das nie reformiert wurde und für heutige Zwecke völlig ungeeignet ist. Entwickelt wurde es für völlig andere Probleme, und offensichtlich funktioniert es nicht.

Als Reaktion auf die Krise hat die Bundeskanzlerin eine Migrationspartnerschaft mit Afrika vorgeschlagen. Welche Art der Zusammenarbeit ist in dieser Situation sinnvoll?

Zunächst bin ich sehr froh, dass sich die deutsche Regierung nun ernsthaft um die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas kümmert. Ich glaube, es ist der richtige Weg und die richtige Zeit. Ich halte es allerdings für unglücklich, das Engagement als Strategie für die Verhinderung von Migration darzustellen. Ich versuche seit 40 Jahren daran mitzuwirken, dass Afrika zum Rest der Welt aufschließen kann, und meiner Ansicht nach ist das die eigentliche Aufgabe.

Das Problem ist, dass eine Milliarde Menschen in einem Umfeld leben, das ihnen im Moment nicht ausreichend Hoffnung auf ein anständiges Leben bietet. Deshalb sollten wir etwas unternehmen, und zwar aus der elementaren Sorge um andere Menschen, aber auch aus einem vernünftigen Selbstinteresse heraus. Wir sollten das uns Mögliche tun. Wenn unser Nachbarkontinent ins Hintertreffen gerät oder völlig abgehängt wird, ist das eine Tragödie für diese Milliarde Menschen und weltweit eine Quelle für Instabilität.

Welche Rolle kann denn Migration in diesem Prozess des Aufholens spielen? In Ihrem Buch Exodus gehen sie ja recht ausführlich auf die ambivalente Rolle der Wanderungsbewegungen ein.

Ja, Ambivalenz ist genau das richtige Wort. Migration ist immer von den Zahlen abhängig und lässt sich daher nicht im Sinne individueller Rechte einordnen. Wenn eine Person wandert, so mag das gut sein. Wenn 100 Millionen Menschen wandern, ist das schlecht. Nicht nur für das Aufnahmeland, sondern auch für das Land, das Menschen verliert. Viele kleine Länder büßen zu viele ihrer gebildetsten und geschäftstüchtigsten Leute ein, und das ist …

… das ist das Braindrain-Argument, die Abwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte.

Ja, Emigration ist nutzbringend, aber es kann zu viel oder zu wenig sein. Daher muss man herausfinden, wie viel Migration ideal ist. Genau das haben Forscher getan. Sie kommen zu dem Schluss, dass viele arme Länder, besonders die kleineren – und das ist typisch für Afrika – zu viele intelligente und gut ausgebildete Menschen verlieren.

Der Braindrain ist also kein Mythos.

Stimmt. Und er betrifft nicht nur Afrika, sondern auch einige ärmere Länder Europas. Erst letzten Monat erschien eine Studie des Internationalen Währungsfonds, die zu dem Schluss gelangte, dass die Länder Osteuropas wegen der Emigration wirtschaftlich langsamer aufholen. Natürlich profitieren die Auswanderer selber – ebenso wie die Aufnahmeländer. Aber viele Menschen bleiben zurück. Dass ein ganzes Land ausblutet – das ist ganz offensichtlich keine Lösung. Und daher muss hinter allen politischen Maßnahmen in erster Linie die Frage stehen, was den Menschen, die im Land bleiben, hilft, möglichst rasch wirtschaftlich aufzuholen.

Doch sind Rücküberweisungen von Migranten ins Heimatland nicht entwicklungsförderlich?

Der durchschnittliche Migrant schickt etwa 1000 Dollar im Jahr nach Hause, also 3 Dollar am Tag. Gleichzeitig büßt das Land aber den Ertrag ein, den dieser Mensch erarbeitet hätte, wäre er im Land geblieben. Daher muss man fragen, ob er mehr erwirtschaftet hätte. Wenn die Leute intelligent, gebildet und geschäftstüchtig sind, dann ist das sehr wahrscheinlich der Fall.

Auch deshalb werden sich die G20 darauf konzentrieren, wie wir Investitionen in Afrika erhöhen können. Der Fokus liegt nicht darauf, wie wir die Menschen davon abhalten können, zu uns zu kommen. Er liegt darauf, wie wir Investitionen und damit die Arbeitsleistung und Produktivität in Afrika erhöhen können, damit daraus mehr Chancen entstehen. Afrika muss für die Menschen, die dort leben, ein Kontinent der Hoffnung werden.

Klingt nach einem sinnvollen Weg, oder?

Absolut. Hoffnung, das sollen keine wilden Träume sein, sondern praktische Dinge, die sich mit Investitionen schaffen lassen – eine bessere Infrastruktur, ein besseres Umfeld für Firmen, die etwas produzieren wollen.

In Ihrem Buch Exodus bezeichnen Sie die Migration als „Sicherheitsventil“. Werden wir im Zeitalter der Migration das Ende von Revolutionen erleben? Weil Menschen keine Veränderungen mehr einfordern, sondern anderswo ein besseres Leben suchen?

Nun ja, die Menschen, die sich am wahrscheinlichsten für Veränderungen starkmachen, sind die Jüngeren, Tüchtigen, Gebildeten. Aber Kontakt mit westlichen Gesellschaften ist durchaus hilfreich für Wandel. Wenn zum Beispiel Studenten aus Afrika zum Studium nach Europa kommen und dann wieder zurückkehren, sind sie für Afrika sehr nützlich. So gelangen nicht nur Qualifikationen nach Afrika, sondern auch Ideen. Eine Migration, bei der die Menschen zurückkehren, ist meines Erachtens sehr vorteilhaft.

Auch mit einer Diaspora, die in den Westen wandert und dauerhaft dort lebt, findet ein gewisser Austausch statt, aber ich glaube, wirklich wirksam ist die Rückwanderung. Und zu dem Sicherheitsventil, das Sie ansprachen: Ja, es gibt, glaube ich, schon lange die Vorstellung, dass Menschen, die in einem zerrütteten Umfeld leben, die Wahl haben, ihre Stimme zu erheben oder wegzugehen. Und je mehr sich für die Stimme entscheiden, desto besser ist das für alle. Wenn sie das Weggehen wählen, mag das für sie selbst besser sein, doch für die Gesellschaft insgesamt ist es schlimmer.

Sie waren in den letzten Monaten häufiger in Deutschland – nicht zuletzt als Berater der Bundeskanzlerin. Wie nehmen Sie die deutsche Debatte wahr?

Ich glaube, dass die Diskussion in Europa generell unangenehm polarisiert ist und im Grunde auch unangenehm moralisiert. Ich hoffe, es entsteht noch eine Art moralischer Konsens, dass wir in der Verantwortung stehen, erheblich ärmeren Gesellschaften zu helfen.
Auch gegenüber Flüchtlingen haben wir Verantwortung. Aber wir werden dieser Verantwortung nicht gerecht, wenn wir ein paar wenige Glückliche zu uns holen, sondern wir müssen etwas tun, das am Ende allen hilft. Im Fall der jungen Afrikaner, die Hoffnung brauchen, liegt die Lösung sicherlich nicht darin, dass wir jeden jungen Afrikaner, der in Kalifornien leben will, aus seiner Gesellschaft herausholen, sondern dass wir dieser Gesellschaft Chancen bieten.
Im Fall der Flüchtlinge ist der Kern des Problems die durch Angst motivierte Flucht. Die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist aus Angst aus ihrer Heimat geflohen, offenbar eine sehr gerechtfertigte Angst. Die heimatlose Bevölkerung, etwa 10 Millionen Menschen, um die sollten wir uns wirklich kümmern. Die meisten dieser Menschen stecken ja noch in Syrien fest, weil die Aufnahmeländer zeitweise ihre Grenzen geschlossen haben. Und dass sie ihre Grenzen geschlossen haben, liegt daran, dass sie bis vor kurzem so wenig internationale Unterstützung erhalten haben.

Aber trotzdem sind 4 oder 5 Millionen Menschen aus Syrien über die Grenzen gegangen, und sie entscheiden sich für die sicheren Nachbarstaaten. Dafür gibt es einen guten Grund, denn da kommt man leicht hin, man kommt leicht wieder zurück, wenn der Krieg vorbei ist, und daher stellt sich die Aufgabe, den Flüchtlingen in diesen sicheren Nachbarstaaten Beschäftigungschancen zu bieten.

Doch kümmern sich nicht zuletzt UN-Organisationen um die Flüchtlinge?

Doch, aber das Modell, nach dem wir im UN-Flüchtlingshilfswerk mit den Flüchtlingen verfahren, steckt immer noch im Jahr 1950 fest. So, als ob Flüchtlinge nur Lebensmittel und Unterkunft brauchen.

Das träfe auch zu, wenn die Flucht eine Sache von wenigen Wochen oder Monaten wäre. Doch 90 Prozent der fliehenden Menschen weltweit ignorieren den UNHCR. Sie tun das, weil ihre oberste Priorität nicht Nahrung und Unterkunft ist. Wenn man mehrere Jahre lang als Flüchtling leben muss, dann ist es am wichtigsten, seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Und im Moment haben die Zufluchtsländer sehr gute Gründe, warum sie den Leuten kein Recht auf Arbeit zugestehen: Ihre eigene Bevölkerung fühlt sich bedroht. Wir als internationale Gemeinschaft müssen den Flüchtlingen in diesen Ländern Arbeit geben.

Wie sollte das geschehen?

In Zeiten der Globalisierung ist das absolut machbar. Deutschland tut das bereits seit Jahren in der Türkei, wo Jobs geschaffen wurden, und das können wir ausbauen. Es beginnt nun auch in Jordanien. Das ist sehr spannend, und Anfänge gibt es weltweit. Deshalb ist Kanzlerin Merkel auch nach Äthiopien gefahren und hat ein Industriegebiet besucht, in dem nun sowohl für Flüchtlinge in Äthiopien, das viele Menschen aufgenommen hat, als auch für Äthiopier Jobs entstehen sollen. Wir können also Abkommen schließen, die sowohl den Aufnahmeländern als auch den Flüchtlingen nützen.

Das ist viel besser, als wenn man die Flüchtlinge nach Deutschland bringt oder in andere Länder. Wenn man sich weltweit die Zahlen ansieht, geben wir im Moment 135 Dollar oder Euro für jeden Flüchtling aus, der es nach Europa schafft, verglichen mit 1 Euro für einen Flüchtling, der sich in einem sicheren Nachbarland aufhält. Das ist eine völlig verzerrte Verteilung der Hilfe zugunsten weniger Privilegierter. Zumal die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, unverhältnismäßig oft männlich, jung und gebildet sind. Das ist die am wenigsten bedürftige Flüchtlingskategorie.

Sie erwähnen die 1950er Jahre – die Zeit der Genfer Flüchtlingskonvention. Ist die Konvention noch relevant?

Die Flüchtlingskonvention ist völlig irrelevant. Initiiert wurde sie im Jahr 1948, das war einer der ersten Schritte der Amerikaner im Kalten Krieg. Sie sollte einzelnen Menschen aus dem sowjetischen Einflussbereich helfen, die von ihrem Staat verfolgt wurden, weil es keine Aussicht auf einen Regimewechsel gab. Deshalb lag der Schwerpunkt darauf, die Menschen im Westen neu anzusiedeln. Es ging um individuelle Verfolgung und Übersiedelung in den Westen, und das wurde als sehr spezielle Situation eingeordnet. Daher galt die ursprüngliche Konvention geographisch nur für Westeuropa und war zeitlich begrenzt, so dass sie auf jemanden, der nach dem Januar 1950 zum Flüchtling wurde, nicht anwendbar war.

Es gibt die Konvention noch immer, ein beschauliches Stück Eurozentrismus, und 1967 wurde sie auf die ganze Welt ausgeweitet. Es ist aber keine globale Konvention, sie war es nie und wird es nie sein. Die meisten Flüchtlinge halten sich in zehn Aufnahmeländern auf, und keiner dieser zehn Staaten hat die Konvention unterschrieben, kein einziger. Daher ist sie irrelevant. Heute sind Flüchtlinge überwiegend keine politisch verfolgten Einzelpersonen, sondern Gruppen, die aus einem zerfallenden Staat, vor Hunger oder ähnlichem fliehen.

Wir haben also dieses Etikett, Flüchtling, dabei ist das heute ein völlig anderes Problem, und die Menschen brauchen eine völlig andere Antwort. Die Entscheidungen, die für Flüchtlinge wichtig sind, müssen aus den Gerichtssälen in die Vorstandszimmer verlagert werden, weil nicht Richter den Flüchtlingen Arbeit geben, sondern die Vorstände der großen internationalen Konzerne.

Es ist doch so: Es gibt zwei Komponenten im derzeitigen Flüchtlingssystem. Eine davon ist diese Konvention, die im Grunde irrelevant ist, die es nicht einmal wert ist, sie zu überarbeiten. Und die andere Komponente ist der UNHCR. Dieser ist eine rein humanitäre Behörde, die in wirtschaftlichen Fragen keine Kompetenz und auch kein Mandat hat. Daher ist sie nicht annähernd dafür ausgestattet, den Bedürfnissen der Flüchtlinge gerecht zu werden, und deshalb ignorieren sie auch 90 Prozent der Flüchtlinge.

Entweder muss daher der UNHCR völlig neu aufgestellt werden, mit einem anderen Mitarbeiterstab. Dort sind lauter Anwälte und Anthropologen beschäftigt, die schaffen keinen einzigen Job. Er muss also entweder eine neue Ausstattung, neue Mitarbeiter, ein neues Mandat erhalten, oder die Aufgabe muss aus dem UNHCR ausgelagert werden in wirtschaftliche Einrichtungen wie die Weltbank. Vor einigen Wochen hat beispielsweise der Vorstand der Weltbank Vorzugskredite für die Flüchtlingspolitik in Jordanien und im Libanon genehmigt, mit denen Arbeitsplätze geschaffen und Bildung bereitgestellt werden sollen. Das ist sehr gut, und das Erstaunliche war nicht, dass so etwas geschehen ist, sondern dass es die ersten Flüchtlings-Kredite der Weltbank waren.

Endlich füllen Institutionen wie die Weltbank das Vakuum, zumindest fühlen sie sich offenbar dazu ermächtigt. Der UNHCR hat seinen Zuständigkeitsbereich viele Jahre lang mit allen Mitteln verteidigt.

Das klingt nicht gerade optimistisch, was eine Reform des UNHCR angeht… Sie setzen im Grunde darauf, die Organisation zu umgehen?

Ich bin da unleidenschaftlich. Mir ist das egal, solange das Richtige geschieht. Was wir aber zumindest brauchen, ist ein Wettbewerb zwischen den Institutionen. Monopole sind immer schlecht, und eine Monopol-Behörde kann wirklich nur schaden. Also ja, wir brauchen andere Institutionen am Tisch, nicht nur die staatlichen Ämter, sondern auch nichtstaatliche Organisationen und Unternehmen. Aber man muss sie bei den anstehenden Aufgaben auf eine Linie bringen, und der Anfang, das sind zuallererst Jobs. Die brauchen Flüchtlinge am meisten, sie müssen in die Lage versetzt werden, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aus Arbeit Würde zu beziehen und ihre Familien zusammenzuhalten, während sie in den Zufluchtsländern leben. Dabei können wir den Aufbau der Nachkriegswirtschaft bereits vorbereiten, während der Krieg noch andauert. Firmen und Arbeitsplätze, die wir in die Zufluchtsländer bringen, können zum Teil nach Kriegsende samt den Beschäftigten in die vom Krieg betroffenen Länder zurückkehren.

Aber natürlich ist es absolut entscheidend, dass sich nach dem Krieg die Wirtschaft erholt. Häufig geschieht das nicht. Daher ist es vernünftig, diese Erholung vorzubereiten, ehe der Krieg vorüber ist.

Aber in Jordanien, nicht in Westeuropa, wenn ich Sie richtig verstehe.

Natürlich. Deutschland ist nicht sonderlich gut geeignet, solche Jobs für Flüchtlinge zu schaffen. Deutschland ist eine Gesellschaft mit einem hohen Ausbildungsstandard, mit Qualifikationen und Zeugnissen, mit einer überaus produktiven Arbeiterschaft, die auf langen Ausbildungszeiten, auf Abschlüssen und so weiter begründet ist. Für die ist ein großer, plötzlich eintretender Zustrom von Flüchtlingen, die nur vorübergehend da sind, schlecht geeignet. In der Financial Times habe ich im Juni von einer Umfrage unter den 30 Top-Unternehmen Deutschlands gelesen, die bislang nur rund 50 Flüchtlinge eingestellt haben. Deutschland hat die klügsten und besten Menschen aufgenommen, die Syrien zu bieten hatte, und kann sie jetzt nicht gebrauchen. Es wäre praktikabler gewesen, diesen Menschen die Jobs zu bringen.

Die Fragen stellte Michael Bröning.

Sir Paul Collier ist Professor für Ökonomie und Public Policy an der Blavatnik School of Government der Universität Oxford. Sein neuestes Buch ist „Exodus: Immigration and Multiculturalism in the 21st Century“ von Penguin und Oxford University Press.

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